Mutterseelenallein auf dem Jakobsweg...

Annikas Rucksack ziert die Jakobsmuschel | Foto: Marita Gerwin
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El camino comienza en su casa.

Der Jakobsweg beginnt bei mir zu Hause.

Wir radeln den Kocher-Jagst-Radweg entlang und machen unsere wohl verdiente Mittags-Pause im urigen Biergarten des Gasthofes "Zum Löwen" am Marktplatz in Braunsbach. Wir haben Glück.

Gerade drei Plätze sind noch frei.

Die Kirchenglocke im Dorf schlägt 12. Exakt mit dem letzten Glockenschlag öffnet sich erneut die Biergarten-Pforte. Hereinspaziert, ein wenig müde und erschöpft, kommt eine junge Frau. Allein! Ihre schwarzen lange Haare zu einem Zopf geflochten, dicke Wanderschuhe an, einen picke-packe vollen Rucksack auf dem Rücken. Mit einem sympathischen Lächeln fragt sie uns, ob sie den letzten freien Platz an unserem Tisch einnehmen kann. "Na, klar doch. Gerne. Nur zu. Seien Sie uns herzlich willkommen."

Sie strahlt uns an. Die junge Frau wirkt mit ihren fröhlichen Augen rundum zufrieden und glücklich. "Dem Himmel sei Dank. Ich muss dringend ein „Päuschen“ machen. Ich bin platt, wie eine Flunder und habe Hunger und Durst, wie ein Löwe!"

"Dann sind Sie ja im Gasthof "Zum Löwen" genau richtig!" witzele ich. "Perfekt. Das habe ich mir auch gedacht. Deshalb bin ich reingekommen." Eine Situationskomik vom Feinsten. Das Eis zwischen uns ist sofort gebrochen.

"Zwei Maultaschen mit Spinat und eine frische Suppe dazu, bitte! Und ein großes Glas Apfelschorle!" bestellt sie sich sofort, ohne Zeit zu verlieren. Sie wischt sich die Schweißperlen von der Stirn. Mein Blick fällt auf ihre Jakobsmuschel, die sie mit einem Perlenband und einer gelben Taglilie am Rucksack befestigt hat.

"Sie sind unterwegs auf dem Jakobsweg, oder? Ihre Muschel verrät mir dies", beginne ich ein Gespräch mit ihr. "Ja, seit drei Tagen pilgere ich, soweit meine Füße mich tragen. Das ist meine erste warme Mahlzeit seit ich von Zuhause los gewandert bin. Gestern Nacht habe ich in einer Schäferkarre auf einem Bauernhof übernachtet. Ohne Wasser und Strom. Nur mit Kerzenschein und 300 Schafen um mich herum. Bis mich ein Gewitter überrascht hat und ich doch noch im Bauernof Zuflucht gesucht habe. Heute Morgen habe ich dem Schäfer geholfen, die Schafe auf eine andere Weide zu führen. Das war ein wahnsinniges Gefühl, zwischen der Herde blökender Tiere zu stehen. Anschließend hat mich die Bäuerin zum ausgiebigen Frühstück eingeladen. Mir sind schon Rehe, Frösche und Hasen über den Weg gelaufen. Und diese Dunkelheit in der Nacht. Funkelnder Sternenhimmel über mir. Ich bin zwar erschöpft bis zum Umfallen, aber restlos zufrieden.

Diese Ruhe. Ich habe schon nach drei Tagen den Kopf völlig frei..."

Es sprudelt nur so aus ihr heraus, getreu dem Motto "Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über." Eine nette spontane Gesprächs-Atmosphäre entwickelt sich zwischen uns. Sie erzählt mir, dass sie Annika heißt und gerade mal 21 Jahre alt ist. Ihre Prüfung als Erzieherin hat sie gerade erfolgreich absolviert. In zwei Wochen startet sie ihr Berufsleben in einem Kindergarten. Bis dahin nutzt sie die zwei freien Wochen für sich selbst.

"Ich bin dann mal weg. Auf dem Jakobsweg zwischen Rothenburg op der Tauber bis nach Rottenburg am Neckar. Eine Strecke von 200 Kilometer sind ihr Ziel. Auf meine Frage, wo der Jakobsweg beginne, antwortete sie mir auf spanisch „El camino comienza en su casa“. Mein Jakobsweg beginnt bei mir zu Hause. Der Weg ist mein Ziel!"

"Und was bedeutet die Muschel, die Sie bei sich tragen?", möchte ich gern von ihr wisen. "Sie ist das Symbol der Wanderer auf dem Jakobsweg. An allen Pilgerzielen im Mittelalter konnte man Pilgerabzeichen erwerben. Sie sollten den Pilger auf dem Heimweg und auch noch in der Heimat schützen. Das Pilgerabzeichen der Santiago-Pilger war und ist die Jakobsmuschel, die ursprünglich auch als Nachweis diente, dass der Pilger die Reise tatsächlich absolviert hatte; seit dem 13. Jahrhundert wurde dies durch ein Beglaubigungsschreiben beurkundet, die heutige La Compostela. Daneben hatte die Jakobsmuschel aber auch den praktischen Wert, dass der Pilger sie zum Wasserschöpfen verwenden konnte. Darüber hinaus galt die Muschel in der bildenden Kunst und Literatur des Mittelalters als äußeres Kennzeichen für Pilger generell.

Annika zeigt mir begeistert Fotos auf ihrem iPhone und ihren Wanderplan. "Ich schaffe bisher 20 Kilometer pro Tag. Mal schauen, wie es weiter geht, und wer und was mir alles noch begegnet. Jetzt muss ich aber weiter, ich darf die Zeit nicht aus den Augen verlieren, da ich meine Tagesetappen genau planen muss, um eine sichere Übernachtung zu bekommen. Tschau und danke für das nette Gespräch."

Die Kirchturmuhr schlägt erneut. Ein Mal. Es ist exakt ein Uhr. Annikas Aufbruch ist buchstäblich eingeläutet. Sie hievt ihren schweren Rucksack auf den Rücken, schnallt den Bauchgurt fest, richtet ihre Jakobsmuschel, zahlt ihre bescheidene Rechnung, füllt ihre Wasserflasche noch schnell mit frischen "Kraneberger" auf und verschwindet leichten Fußes in der Ferne. Eine tolle junge Frau! Ich ziehe meinen Hut vor ihrem Mut und ihrer Willenskraft.

"Gute Reise Annika, Du schaffst das!", ermutige ich sie beim Abschied.

"Der Weg ist mein Ziel", ruft sie mir strahlend zu...

http://www.lokalkompass.de/arnsberg/leute/auf-dem-weg-sein-mit-fragen-im-gepaeck-d301936.html

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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