Mit warmen Händen geben...

Ein  mächtiger Baum ist die Kulisse vieler Familiengeschichten | Foto: Marita Gerwin
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  • Ein mächtiger Baum ist die Kulisse vieler Familiengeschichten
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Ein Sonntagnachmittag im Juli 2013. Wir besuchen unseren hochbetagten Vater in seinem Garten. Kurz vor den Sommerferien plaudern wir im Schatten des mächtigen Walnussbaumes über unsere Reisepläne. In wenigen Wochen ist es so weit: „Hurra! Ferien!“.

Papa Ewald lächelt verschmitzt, geht ins Wohnzimmer und kommt vergnügt zurück mit einem „Reisebuch für unsere Jugend“ aus seinem Geburtsjahr 1928. Zu Papier gebracht von Kurt Tucholsky. Er nimmt auf seiner gemütlichen Gartenbank Platz und beginnt ohne Punkt und Komma das Gedicht zu rezitieren:

„Hurra! – Ferien! Hast du dies Buch in deiner Hand: Hurra! dann gehts ins Ferienland! Endlich mal raus aus den staubigen Straßen – endlich die Schule hinter sich lassen – endlich mal raus aus dem Großstadtgeschrei – hinein in die Ferien! – Seid ihr dabei?

Hinaus in die Berge, zum Strand, hinaus ... ! Und so sieht der Tag der Abreise aus: Morgens um sechs schrillt der Wecker durchs Haus: "Raus aus den Betten – Rauauauau-aus!" Und jetzt geht aber ein Gelaufe los, ein Getrappel und Geschnaufe, denn jeder will der erste sein: und Lucie fällt in die Badewanne rein, und Hans will den Papagei mitnehmen, und heult – "Du sollst dich wirklich was schämen!" Und Grete hat mit Frollein Krach – und die lieben Eltern ... ?...Ach, die... ! Mama muß sich um alles kümmern – das Telefon klingelt, die Kinder wimmern – Mama packt und ordnet und zählt und paßt auf, dass für unterwegs auch nichts fehlt. Und belegt die Brote und umwickelt die Bücher und faltet die Hemden und rollt die Tücher – und Papa indessen in guter Ruh sitzt auf dem Koffer, denn der geht nicht zu.

Anna, das Mädchen, geht allen zur Hand ... Und Flops, der Hund, bellt wie nicht bei Verstand – Und Lucie will den Baukasten mit den Steinen mitnehmen und fängt deshalb an zu weinen – – Und Hans hat Angst, den Zug zu versäumen. Und Grete will die Puppenstube ausräumen ... Und Papa indessen in guter Ruh sitzt auf dem Koffer, denn der geht noch immer nicht zu.

Acht Uhr fünf! Es ist höchste Eisenbahn! "Ist das Auto schon da?" – "Tritt nicht in das Porzellan!" Flops heult – ihm trat einer auf den Schwanz ... Und Papa indessen in guter Ruh freut sich: denn nun ist der Koffer zu! Uff! Nun sitzen sie alle im Wagen! Anna! Grete! Lucie! Hans! "Was wollt ich denn dem Mädchen noch sagen?" Lucie will wissen, wie lange wir fahren – Hans zieht grad Greten an den Haaren – Im Kopf der Mama fällt indessen eine Klappe herunter: "Zurück! Wir haben die Schlüssel vergessen!"

Alle sind mächtig aufgeregt – Wohin hat Mama die Schlüssel gelegt ? Als sie zurück in die Wohnung kommen, da hat keiner die Schlüssel weggenommen- die liegen brav auf dem Stuhl – aber auf dem Tisch tanzt Anna, das Mädchen, mit einem Flederwisch zum Grammophon – und vor Schreck wird sie weiß wie eine Lilie ... Und es stürzt wieder herunter die ganze Familie!

Hin zum Bahnhof. Drei Minuten sind noch Zeit! Ist das große Gepäck in Sicherheit? "Seid ihr alle da?" – "Sind die Kinder drin?" "Bedaure, mein Herr, hier kann keiner mehr rin." "Mutti, haben wir auch nicht die Thermosflasche vergessen?" "Aber Hans, denk doch nicht schon wieder an Trinken und Essen!"

"Erst mal zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf Mann!" Achtung, es pfeift! Der Zug rückt an. Hurra – Ferien! schreien die Kinder alle drei! Hurra – Ferien! – und von dem Kindergeschrei: Hurra – Ferien! vergessen Mama und Papa alle Mühn – – Und hunderttausend vergnügte Kinder ziehen aus Magdeburg und Stettin und Berlin in die „Hurra! – Ferien!“

Aus "Reisebuch für die Jugend" von Kurt Tucholsky (1890-1935)
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Nicht nur mein Vater strahlt mit der Sonne um die Wette. Den gesamten Text hat er aus seinem Gedächtnis rezitiert. 85 Jahre ist mein Vater alt! Auch wenn ihm sonst schon mal das ein oder andere Wort verloren geht. Heute fließen die Worte wie ein Wasserfall aus seinem Mund heraus. Wir sind beseelt. Erinnern uns an die unbeschwerten Ferien mit den Eltern. Lang ist es her: die wunderbare Sommerfrische am Strand von Fedderwardersiel an der Nordseeküste. Eine Weltreise für uns Sauerländer!

„Mein Geschenk für Dich!“, strahlt er und überreicht mir feierlich dieses "Reisbuch für die Jugend". In seinem Garten unterm Walnussbaum, den seine Eltern 1928 zu seiner Geburt gepflanzt haben.Im gleichen Jahr, wie Tucholsky diesen eindrucksvollen Text verfasst hat. Ich bin gerührt. Ich werde das Buch hüten wie einen Schatz. „Dankeschön Papa!"

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die uns so besonders wertvoll sind!
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Kurt Tucholsky war ein deutscher Journalist und Schriftsteller. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel.
Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Geboren: 9. Januar 1890, Berlin, Gestorben: 21. Dezember 1935, Göteborg, Schweden

Eine weitere kleine Geschichte "Mit warmen Händen geben.." finden Sie hier:

http://www.lokalkompass.de/arnsberg/leute/das-kleine-nickerchen-im-garten-d328357.html

Ein  mächtiger Baum ist die Kulisse vieler Familiengeschichten | Foto: Marita Gerwin
Mit warmen Händen geben | Foto: Mariza Gerwin
Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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