Multimediale Reportage "Demenz ist nicht der Chef (Dementia isn´t the boss)" online

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Arnsberger Lern-Werkstadt Demenz reist zum FOTONHUIS in Belgien

In den vergangenen Jahren erhielten die „Arnsberger Lern-Werkstadt Demenz“ und das „Fotonhuis“ der Initiative „Familiezorg West-Vlaanderen vzw“ den EFID-Preis „Living well with dementia in the community“. Jetzt trafen sie sich zum Fachaustausch in Brügge – gefördert durch die EFID (European Foundations´ Initiative on Dementia).

Empfangen von Bart Deltour, Leiter des Fotonhuis, und Emma Delanoeye, Sozialarbeiterin, erfahren wir zunächst etwas über das Leitbild und die Ziele des Fotonhuis. Im “Offenen Treff” erzählen die beiden uns von den Projekten des Hauses, über die Ziele der Mitarbeiter und über die Menschen mit Demenz sowie ihren Familien. Das Servicezentrum, das sich insbesondere auch um die Familien des an Demenz erkrankten Menschen kümmert, bietet neben den typischen Pflegedienstleistungen auch speziell eine niederschwellige Freizeitgestaltung. So können Menschen mit Demenz und ihre pflegenden Familienangehörigen am “Cup of Comfort” (Offener Treff) teilnehmen, um mit anderen Betroffenen ins Gespräch zu kommen. Sie können Literaturnachmittage und Musikabende besuchen oder aber auch gezielt in die Selbsthilfegruppe gehen. Musikalische Interessenten können den Foton-Chor aktiv mitgestalten. Auch regelmäßige, saisonbedingte Feiern richtet das Fotonhuis aus.

Neben diesem “Dienst an der Front” verfolgt das Fotonhuis zwei besondere Ziele: Einerseits ein demenzfreundliches Gesundheitssystem – von Herz zu Herz, andererseits eine demenzfreundliche Gemeinde in Brügge zu schaffen. Dabei legen Bart Deltour und seine Mitarbeiter großen Wert darauf, den Menschen mit Dememz wie auch ihren Familien auf Augenhöhe zu begegnen – nicht von oben herab. “Wir sind nicht die Experten, die den Menschen sagen, was sie zu tun haben. Sie selbst sind die Experten. Wir hören ihnen zu – nehmen ihre Fragen und Bedürfnisse wahr”, erzählt Bart Deltour.

Emma Delanoeye sprüht vor Energie – sie ist es, die nach den Sternen greift. Sich nichts sehnlichster wünscht als eine Gemeinde, die Menschen mit Demenz so akzeptiert, wie sie sind. Mit all ihren Macken – aber auch all ihren Fähigkeiten. Emma wünscht sich die absolute Gleichberechtigung und legt sich dafür mächtig ins Zeug.

“Er ist mein Mann … so wie er ist!”

Innerhalb des rund zweitägigen Besuchs in Brügge begegnen uns auch Nico und Elena. Ein von Demenz betroffenes Paar, das durch das Fotonhuis gelernt hat, mit der neuen Situation klarzukommen. Nico zeigte bereits 1995 erste Anzeichen der zermürbenden Krankheit, doch erst 2008 wurde die Alzheimer-Demenz diagnostiziert. Heute muss Nico jeden Tag aufs Neue lernen. Waschen. Anziehen. Alles. Auch wenn für Elena anfangs eine Welt zusammenbrach, so lernte sie – auch dank dem Fotonhuis – die Situation anzunehmen. Jetzt genießt das Paar jeden Moment. Es lebt den Moment!

Nico betritt das Fotonhuis mit den Worten: „Hallo, da bin ich – wieder.“

Für uns pfeift er die Nationalhymne Deutschlands. Wie sich später am Tag herausstellt, sprach Nico Zeit seines Lebens kein Deutsch – aber jetzt. Jetzt, wo Gäste aus Deutschland da sind, spricht er es aus dem Effeff. Ein Zeichen dafür, dass verborgene Talente im Herzen schlummern. Und genau die gilt es in den Vordergrund zu stellen. Eben nicht die Dinge, die ein Mensch mit Demenz nicht mehr kann, sondern diejenigen, die er kann. “Sie können es tun, wenn wir es tun können”, sagt Elena. Gemeint ist, das Leben mit Demenz zu meistern – es zu akzeptieren. Und das Beste daraus zu machen – glücklich zu sein!

Wenig später blättert er im Handbuch für Kommunen, das Martin Polenz und Marita Gerwin von der Fachstelle Zukunft Alter (Stadt Arnsberg) den Belgiern überreichen. Ich weiß nicht, ob Nico es wirklich liest oder ob er sich lediglich die Bilder ansieht.

Ich kann nicht beurteilen, ob Nico das Gesehene versteht. Ist aber auch völlig egal.

Denn in diesem Moment nimmt er am Leben teil. In diesem Moment ist er Teil unserer Gesprächsrunde. Ein Teil von uns. Und nur darauf kommt es an!

Wie Elena sagt: “Er ist mein Mann … so wie er ist!”

Genau diese Einstellung ist es auch, die das Fotonhuis so besonders macht. Hier werden Menschen mit Demenz so akzeptiert, wie sie sind. Ob sie nun 10 Stücke Zucker hintereinander essen wollen oder nicht – niemand wird belehrt.

Immer schlüssiger wird mir der Vergleich zum Foton – denn ein Foton ist ein extrem kleines Lichtteilchen. Fast unsichtbar mit dem bloßen Auge. Und genau das ist es, was Bart, Emma und all die anderen im Fotonhuis gemeinsam mit den Familien suchen: das Licht in der Dunkelheit. Die Quelle der Kraft im Herzen des Menschen. Denn Herzen werden nicht dement.

“Er hat alles vergessen”

Vorgestellt wird uns auch ein besonderes Projekt in Brügge – das Museumsprojekt. Im “Hospitalmuseum” finden regelmäßige Führungen für Menschen mit Demenz statt. Das ist natürlich nicht mal eben so möglich – Evelien Vanden Berghe ließ sich speziell für dieses Angebot fortbilden.

“Es erfordert ein gewisses Fingerspitzengefühl, mit Menschen mit Demenz zu arbeiten. Sie benötigen mehr Zuwendung. Und man weiß nie, was passieren wird. Man muss spontan reagieren …”, sagt Evelien.

Für eine rund einstündige Führung werden zwei Stunden Zeit eingeplant – nur sechs Menschen plus Begleitung nehmen teil, um die Zeit zu haben, auf jeden einzelnen Gast einzugehen. Alles in Ruhe. Ohne Stress.

Mir stellt sich die Frage, ob Menschen mit Demenz realisieren, was gerade passiert – die Antwort gibt mir Nico, der uns mit seiner Frau Elena auch ins Museum begleitet. Beim Betrachten eines Gemäldes fragt Evelien ihn, was ihm an diesem Bild besonders auffiele. Er zeigt auf die Person in der Mitte (Jesus) – er sähe aus, als wäre er gerade verprügelt worden. Elena erzählt uns, dass Nico die Bibel sehr genau kenne und auch die Geschichte. Er habe jedoch alles, was er jemals gelernt habe, vergessen. Er habe keinen blassen Schimmer, wer die Person in der Mitte des Gemäldes sei.

Sicherlich wird Nico auch unseren Besuch im Museum schon morgen vergessen haben. Doch wir sind uns sicher: Ihm bleibt ein Gefühl. Ein Gefühl der Behaglichkeit. Ein gutes Gefühl!

Das Museumsprojekt ist etwas ganz Besonderes. Denn auch wenn jeder weiß, dass Menschen mit Demenz dieses Erlebnis schnell vergessen haben werden, nimmt man ihnen die Freude an der kulturellen Teilhabe nicht.

Atemberaubend: Gotischer Saal im Rathaus

Kurz vor der Heimreise nach Arnsberg empfängt uns der stellvertretende Bürgermeister, Philip Pierins, im Rathaus von Brügge.

Auch er kennt Bart Deltour und das Fotonhuis aus eigener Erfahrung. “Ich bin sehr dankbar dafür, dass es Foton gibt – meine Familie und ich haben von dieser Organisation sehr viel Unterstützung erhalten, als mein Vater an einer Demenz erkrankte. Foton zeigte uns, wie wir leichter mit der neuen Situation leben konnten”, erzählt Philip Pierins.

Zur Feier des Tages lädt er uns zu einer exklusiven Besichtigung des gotischen Saals ein. Ein Highlight, das wir so schnell nicht vergessen werden. Der Ratssaal, der sich in originalem Zustand befindet, wird auch heute noch genutzt, um Entscheidungen zu treffen.

Café ZEITLOS und die Klinikclowns

Selbstverständlich haben auch wir verschiedene Projekte in petto. So erzählen Martin Polenz und Marita Gerwin vom Projekt “Café ZEITLOS”, das jeden Dienstag im JBZ Liebfrauen in Arnsberg viele Gäste anlockt, gemeinsam kreativ zu werden. Petra Fromm, Initiatorin des Projekts, lädt dazu immer wieder regionale Künstler ein, diese Nachmittage aktiv mitzugestalten. Auch Rosalore, Begegnungsclownin aus Hamburg, besuchte das Café im Jugendzentrum bereits.

Natürlich können wir nicht von allen Aktionen berichten – nicht in so kurzer Zeit -, aber die Klinikclowns (Kids und Teens des Zirkus Fantastello – JBZ Arnsberg) sollen nicht unerwähnt bleiben. Sie zaubern Lachfalten in die Gesichter der Senioren.

Insgesamt ein gelungener Fachaustausch – nicht nur über Zahlen, Fakten und Organisatorisches, sondern insbesondere über die Ziele des Fotonhuis ebenso wie über die Ziele der Arnsberger Lern-Werkstadt Demenz. Praxisnah!

Fazit: Menschen mit Demenz und ihre Familien benötigen nicht nur Unterstützung in der körperlichen Pflege, sondern auch eine Betreuung von Herz zu Herz!

Und genau da setzen das Fotonhuis und die Arnsberger Lern-Werkstadt Demenz an …

Sie möchten mehr erfahren? Begleiten Sie uns doch einfach nach Brügge – virtuell:
http://zukunft-alter-arnsberg.pageflow.io/dementia-is-not-the-boss
(DEUTSCH / ENGLISCH)

Autor:

Thora Meißner aus Arnsberg

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