Der letzte Gruß... eine wahre Geschichte

Nun lag sie da. Im weißen, sterilen Zimmer. Als ich das Zimmer betrat, dachte ich, ich käme zu spät. Ihr Atem ging flach. Sehr flach. Ich streichelte über die weißen, strähnigen Haare und sie schreckte auf. „Ich bin es. Deine Tochter.“ In ihrem Gesicht zuckte ein Anflug von Schmerz auf. Ich setzte mich auf die Bettkante und hielt ihre Hand. Lange sagten wir nichts. Dann versuchte sie, ihren Arm nach meinem Gesicht auszustrecken, eine Andeutung eines Streichelns. „Hast du Schmerzen?“ – „Ja“- „Wo?“ – „Überall.“- „Möchtest du Schokolade?“ Sie nippte an einem Stückchen. „Lecker?“ – „Ja.“ Doch bald verzog sie das Gesicht und brauchte einen Schluck Wasser. „Wie kommst du hier her?“ fragte sie – „Mit dem Auto… Und du? Wie kommst du hier her? ... Auch mit dem Auto?“ Ich lachte. „Es ist noch hell. Aber trüb. Und draußen liegt kein Schnee.“ – „Nein?“ fragte sie.
„Möchtest du singen?“ fragte ich.
Ich begann, all die alten Kirchenlieder anzustimmen, die sie ihr ganzes Leben begleitet hatten. „Ich bete an die Macht der Liebe… So nimm denn meine Hände… Großer Gott, wir loben dich…“ Sie formte mit den Lippen die Worte, kaum hörbar. In ihren Augen breitete sich Freude, Glanz aus. Bei einem Lied fehlte mir das letzte Wort, aber sie – hauchte es. „Toll. Du kannst das ja noch!“ Ein glückliches Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Sie fragte: “Du kannst singen?“ – „Ich bin im Gospelchor.“ – „Seit wann?“ – „Drei, vier Monate…“ Ich überlegte und dachte an ihr Lieblingslied, war aber nicht in der Lage, es anzustimmen. „Jesu, meine Freude… bleibst du auch im Leide…“
Stattdessen begann ich ein Lied, das sie in unserer Kindheit im Urlaub immer gesungen hatte, im Sauerland auf einem tannengesäumten Weg, an dem ein kleines Bächlein gluckerte: „Vöglein im hohen Baum, klein ist´s man sieht es kaum, singt doch so schön…“
Meine Stimme brach ab, ich schaute aus dem Fenster und beendete nur die erste Strophe. Wir schwiegen.
„Bist du müde?“ – „Ja“ – „Ich gehe jetzt. Schlaf gut“ – „Ja“…
Und der Frieden… breitete sich aus.

Sie starb ein paar Monate später. Ich legte Rosen auf ihr Grab.

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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