"Hast Du heute schon gelebt?" - 2. Gospel-Gottesdienst wusste zu berühren

Aus dem Leben ... in die Kirche.
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„Was verträgt die Kirche?“, so lautete kürzlich eine Veranstaltung in der historischen
St. Vinzentius-Kirche in Harpen, bei deren Ankündigung man fast schon einen Schreck bekommen wollte, sah man doch Veranstaltungen jenseits der herkömmlichen Gottesdienste urplötzlich in Frage stehen.

Dass Kirche alternative Veranstaltungen durchaus verträgt, wenn sich die Mitwirkenden ihrer Verantwortung bewusst sind, wenn sie respektvoll und warmherzig zu handeln und mit einer wohldurchdachten Botschaft das Innere des Menschen zu berühren wissen, das bewies am Sonntag, 21.09.14 erneut die Gospel-Family Bochum. Unter dem Motto „Hast Du heute schon gelebt?“ hatten Chor und Evangelischer Kirchenkreis Harpen zum zweiten Mal in diesem Jahr zu einem Gospel-Gottesdienst in die kleine Kirche eingeladen. Ganz ohne Pfarrer stellten die knapp 25 Mitwirkenden unter der Leitung von Christiane Hartmann um 18.00 Uhr eine kirchliche Veranstaltung auf die Beine, die nichts vermissen ließ.

Erweckte der Gottesdienst durch die vorgetragenen und gemeinsam gesungenen Stücke zu Beginn fast eher noch den Anschein eines kleinen Hauskonzertes in Kreise der erweiterten Familie, so spürte man recht schnell, dass es genau das war, was hier transportiert werden sollte und den Zauber des frühen Sonntagabends ausmachen würde. Die Botschaft des hier seins, des bewussten Lebens im Hier und Jetzt und der Eindruck von Gemeinschaft konnten kaum treffender gespürt werden.
Im Umsehen verstanden die Sängerinnen und Sänger das kleine Gotteshaus in einen gemütlichen Raum voller Lebensfreude zu verwandelten und sie scheuten sich dabei nicht, die eigenen, für eine alternative Konzertveranstaltung im nächsten Jahr im stillen Kämmerlein bereits zu Papier gebrachten Überlegungen eines dezentralen Chorsingens aktiv umzusetzen, ohne dass sie von ihnen wissen konnten. So verhalfen sie unerwartet zur dankbaren Erkenntnis, dass es sehr gut funktionieren kann, wenn der Chor gruppenweise von den Seiten des Kirchenraumes singt, um Zuhörer und Sänger zu einer familiären Einheit zu verbinden.

Dass der Gottesdienst viel Wert auf Gesang und Theaterspiel legte und sich der aktuellen Frage „Hast Du heute schon gelebt“ jenseits einer herkömmlichen Predigt mit gespielten Szenen näherte, machte den besonderen Reiz und die Dichte dieses Abends aus.
Sich in das junge Mädchen einzufühlen, das sich von den Anforderungen des Lebens und der Mutter genervt fühlte und seine Ruhe haben wollte, der alten Dame im Lehnstuhl zuzusehen, die sich mit den Bild ihres verstorbenen Mannes beim Hören eines Tangos in ihre Erinnerungen träumte oder zu erleben, wie sich „Tante Conny“ auf dem Ego-Trip mit dem Finden Ihrer inneren Mitte abmühte, um mit dem Leben in Balance zu bleiben („Ich werde über mich hinauswachsen, ich werde meine Mitte finden, ich bin eins mit dem Kosmos“) hatte schon etwas spezielles.

„Es ist mir wirklich ein Herzensanliegen, der guten alten, aber dennoch brandaktuellen "Botschaft", dem Evangelium, in einem Kleid zu begegnen, das unserem heutigen Lebensgefühl entspricht oder zumindest niederschwellig verstanden wird“, hatte Leiterin Christiane Hartmann nach dem 1. Gospel-Gottesdienst geschrieben und genau das war ihr erneut gelungen. So boten die gespielten Szenen im Anschluss reichlich Aufhänger für intensive Ausführungen zum Thema Zeit und Leben. In Reflexion der soeben verfolgten Lebenssituationen stellte sie die Frage: „Hast Du heute schon gelebt?“ und „Leben wir hier gerade? Oder sitzen wir hier nur unsere Zeit ab?"

Auf lebensbejahende Weise spannte sie einen weiten Bogen über das unterschiedliche Erleben von Zeit und die auferlegten Pflichterfüllungen, die immer wieder mit dem Ruhebedürfnis des Einzelnen kollidieren und um die Lebenszeit streiten, deren bewusste Wahrnehmung schließlich komplett verloren gehen kann. „Die Zeit verfliegt so schnell. Fühlt man da das Leben? Ich möchte frei sein, das hier ist ja kein Leben“ und „Wo ist die Zeit geblieben?“ waren nur einige der Fragestellungen, die sie stellvertretend für all jene in den familiären Raum hinein formulierte, denen sie sich allzu häufig aufdrängen.

Berührend blieb ohne Zweifel die Auseinandersetzung mit dem Bindestrich zwischen den zwei Jahreszahlen auf dem Grabstein, die Geburt und Tod markieren:
„Der Bindestrich auf dem Grabstein, ist das alles, was bleibt, wenn ein Mensch gegangen ist? Kommen wir nur auf die Welt, um die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod zu füllen? Wie leben wir und was machen wir aus der uns geschenkten Zeit? War es wert, sich auf den Weg gemacht zu haben?"
Während man in herkömmlichen Gottesdiensten in der langen Predigt oft versucht ist, verstohlen auf die Uhr zu schauen, gab der Gospel-Gottesdienst hierzu keinen Anlass. Er zählte noch im Augenblick des Erlebens zu den Veranstaltungen, bei denen man ein zweites Mal die „Play“-Taste drücken möchte, um das Erlebte tiefer zu verinnerlichen; dies insbesondere auch deshalb, weil der Gottesdienst auch die Jüngsten der Gemeinde zu erreichen wusste: Da ein noch sehr kleiner Mensch bewundernswert bewusst im Hier und Jetzt lebte, verschwand leider so manches Wort der Vortragenden unter dem freudigen Krähen des kleinen Blondschopfes, der sich im Kirchenraum sichtlich wohlfühlte und selbst vor Stift, Hand und Kamera der hier Bericht erstattenden Hobby-Journalistin keinerlei Berührungsängste hatte. Dennoch danke für diese plötzlich kleine Großfamilie, in der die kindliche Geste und ein unbefangenes Lächeln die Worte aufzuwiegen wussten, die ohne Chance auf diese „Play“-Taste auf Nimmerwiederhören am eigenen Ohr vorbeigeflogen sind.

Nach den ungewöhnlich ausführlichen, aber angenehm aussagekräftigen Fürbitten und dem gemeinsam gesungenen „Unser Vater“ drang leise ins Bewusstsein, dass es eine Eigenart des Hier und Jetzt ist, sich nach vorne zu bewegen und auch diese Abendstunde nur begrenzt war. Doch mit den Worten „Wir haben heute keinen Pastor, aber wir können uns den Segen selber geben, indem wir ihn gemeinsam singen“, führte Christiane Hartmann den Gottesdienst schließlich so liebevoll dem Ende entgegen, als bringe sie ein Kind zu Bett. Hatte sie zuvor noch Hanns Dieter Hüsch zitiert, dass Gott sich einmische, indem er seinen Kindern manchmal durch andere Menschen seine Liebe anbiete und es wichtig ist, wenn die Seele wieder ein Instrument der Zärtlichkeit wird, so wurden diese Liebe und die Zärtlichkeit jetzt wirklich greifbar.

Hand in Hand mit dem Banknachbarn, selbst gehalten und aktiv verbindend, wurde der zwischen Chor und Gemeinde singend mitten in den kleinen Kirchenraum getragene Irische Reisesegen zu einem ergreifenden Spielball menschlicher Emotionen und dadurch in der Tat zu einem intensiven Segen von Angesicht zu Angesicht.
Die Aufrichtigkeit der Botschaft „Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott Dich fest in seiner Hand“ transportierte sich auf eine so wunderbare Weise, dass sie tief verinnerlicht nach Hause mitgenommen werden konnte.

Es war ein Gottesdienst der starken Momente und spätestens am Ende der knapp anderthalbstündigen kirchlichen Veranstaltung spürte man, welch ein berührendes Geschenk man erhalten hatte. Mit ihrer natürlichen Lebensfreude, die keine Unterschiede zwischen dir und mir machte und jeden gleichermaßen mitnahm, hatte die Gospel-Family erreicht, dass man sich als Teil der Familie fühlen konnte. Die trotz des viel zu kalten und zu nassen Sonntags erstaunlich bewusstseinsklar und ausgeschlafen wirkenden Chormitglieder verstanden Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu teilen und sie wussten auf diesem Wege Veränderungen zu bewirken.

Hatte man heute schon gelebt? Die Frage ließ sich klar beantworten. Ja, man hatte irgendwie gelebt. Aber in welchem Zustand hatte man den Tag und vorher alle anderen verbracht und in welchem Zustand befand sich eigentlich das innere Zuhause? In welchem Zustand war der Bindestrich nach dem Geburtsdatum, der noch nicht wusste, wo sein Ende lag?
Eher unaufgeräumt und zerwühlt war das Innere gewesen, bedrückt von Unstimmigkeiten, die noch immer in der Luft hingen, hatte man gelebt und dementsprechend krakelig und knitterig fühlte sich der Bindestrich an. Der Gottesdienst aber hatte die Querelen glatt gebügelt, die Musik zurückgebracht, Frieden hergestellt und quer durch den Kirchenraum das Band wieder knüpfen können, das zerrissen war. Manchmal geschehen eben doch die kleinen Wunder, die ein Leben im Hier und Jetzt wieder um so vieles leichter machen.

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Wer es sich jetzt schon einmal vormerken möchte:
eine dritte Auflage der Gospel-Gottesdienste ist am So. 16.11.14 um 18.00 Uhr geplant.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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