Kindesmissbrauch... die Geschichte von "Pollux"

Nein, diese Geschichte ist kein Märchen!!! Sie spielte sich in den 70igern ab. Pollux war mein Klassenkamerad. Auch später hatten wir Kontakt.
Er war kein guter Schüler. Kämpfte sich mühsam durch. Auch war er nicht beliebt, da er sich immer ein wenig abseits von anderen hielt, schweigend, sinnierend, träumend. Sein weiches rundes Gesicht wurde unterstützt von dem damaligen Beatles – Schnitt der Haare, tiefem Pony und über den Ohren abgerundet bis in den Nacken. Dazu hatte er große rehbraune Augen, und so gab jemand ihm den Spitznamen „Pollux“, eine lustige Comicfigur zu der Zeit. Der Name klebte an ihm, jedermann fand ihn gut, auch in späteren Zeiten, und eigentlich wusste kaum jemand seinen richtigen Namen.
Eine kleine 2 ½ Zimmer Wohnung war seine Behausung mit den Eltern. Es war ihm unerträglich, auf solch nahem Raum zusammen zu leben. Sein Vater schimpfte, seine Mutter erdrückte ihn mit überschwänglicher Fürsorge. Als er 13 war, hielt er es nicht mehr aus. Und zog in den Keller. Richtete sich einen Kellerraum neben dem Kohlenkeller als Zimmer ein. Mit winzigem Fenster, das so gut wie kein Tageslicht hinein ließ, ohne Heizung. Es war ihm egal. Hier, im Dunklen, in der Abgeschiedenheit, hatte er sein Reich. Hier störte ihn niemand. Wenn er hier war, war er einfach weg, einfach nicht mehr anwesend für die Welt.
Er lag auf der Pritsche und träumte. Träumte viel. Er verschwand in die Welt des Traumes, sank in sich selbst hinein, ruhig, bewegungslos, und wollte sie nicht mehr verlassen.
Doch die andere Welt wartete auf ihn, redeten ihm die Eltern ein, und er besuchte weitere Schulen. Ein Bekannter kam einmal mit einer Gitarre vorbei, spielte etwas darauf, und Pollux nahm zögernd das Instrument in die Hand.
Das war es! Das würde ihm gut tun! Da er seine Eltern nicht zu einem Kauf überreden konnte, denn er konnte nicht gut überreden, trug er Zeitungen aus und kaufte sich von dem Geld seine erste Gitarre. Nun saß er ständig im Kellerloch und zupfte die Saiten, versuchte Songs zu imitieren, die er bisweilen im Radio hörte.
Beatles, Stones, Bob Dylan, Donovan, Cohen.
Nur war er unfähig, dazu zu singen. Sobald er einen Ton hervorbringen wollte, brach seine Stimme ab. Er versuchte zu summen, aber auch das gelang ihm nur mäßig.
Seine Eltern machten sich Sorgen. Seine Mutter kam ständig in den Keller, um ihn zum arbeiten zu bewegen und wollte ihm weismachen, er solle es doch zu etwas bringen. Sein Vater packte ihn des Öfteren am Kragen und herrschte ihn an.
Und wozu hatten seine Eltern es gebracht? In dieser Hütte? Was wollten sie ihm denn sagen, was sie selbst nicht erreicht hatten?
Er duckte, er schluckte und zog sich zurück, zurück in sein Kellerloch, zu seiner Gitarre, zu seinen Träumen.
Dann kam sein Onkel auf eine Idee.“Du kannst bei uns wohnen. Dort hast du ein schönes Zimmer in unserem Haus.“ Das war eine Alternative. Ein eigenes Zimmer, ein eigenes schönes Reich! Endlich aus diesem Loch! Er sagte nicht Nein. Und schon befand er sich im Haus seines Onkels, seiner Tante.
Zunächst schien alles wirklich prima. Die Leute waren nett. Doch dann wurde der Onkel netter, noch netter. Er wurde so nett, dass er allabendlich seinen Schwanz in ihn hineinstieß, in ihn, diesen Jungen, der so weich und mädchenhaft wirkte.
Und nun? Was sollte er tun? Zu seinen Eltern zurück konnte er nicht. Er könnte es nicht erklären. Für eine eigene Wohnung hatte er kein Geld, er war abhängig von der Mildtätigkeit seines Onkels. So harrte er aus, harrte lange aus.
Seine Beziehungen zu Mädchen blieben immer auf der Strecke, denn, wenn diese ihm nahe kamen, verschloss er sich, floh, und die Mädchen fühlten sich abgelehnt. Seine Gitarre war sein Mädchen. Aus ihr entlockte er Herzenstöne, die ihn durchströmten und ihm halfen, sich in die Traumwelt zu begeben.
Manchmal hielt er sich bei einigen Kollegen auf, Klassenkameraden, wobei er der Schweigsame, der Komische, der Mitläufer blieb. Sie kifften viel, und auch das gab ihm ein Gefühl für seine Träume, für seine Wünsche.
Manchmal war er gar nicht richtig da, abwesend, so dass ihn die anderen belustigt oder mitleidig anschauten. Er konnte ihnen nicht vermitteln, was er dachte, was er fühlte. Da war ein Block in ihm, jedes Mal, wenn er sich artikulieren wollte. Auch die Gitarre sang nicht so, dass sie ihn verstanden.
Irgendwann brachten sie ihn weg. Sie sagten, im Krankenhaus sei er besser aufgehoben. Er legte sich auf sein Bett und tat nichts, bis die Ärzte ihn für geheilt erklärten, da er nicht auffällig war. Doch hatte er fürchterliche Angst vor ihnen gehabt und hatte deshalb geschwiegen. Er schwor sich, nie, nie wieder diese Tortur mitzumachen, wie eine Nummer behandelt zu werden, und nur entlassen zu werden, wenn er angepasst war.
Eine Zeitlang ging es gut, er nahm viele Medikamente. Die machten ihn genau so ruhig wie das Kiffen. Dann wollte er es so nicht mehr. Wollte diese bunten Pillen vergessen. Als er sie absetzte, fühlte er sich schlechter als jemals zuvor. Er war unruhig, verwirrt, konnte seine Gedanken nicht ordnen. Wusste nicht mehr, ob er laut oder leise redete.
Dann fand da diese Fete bei einem Bekannten statt. Sie kifften ordentlich, die Musik dröhnte, und er unterhielt sich angestrengt. Die anderen schauten irritiert. Kannten ihn so gar nicht. Er wurde lauter, um sich Gehör zu verschaffen, eindringlicher. Sie sahen sich an, und dann sagte einer: „Wir bringen dich jetzt in die Psychiatrie.“
Mit einem Mal war er hellwach. Nein, nur das nicht! Nicht noch einmal! Er sprang auf, aber die anderen deuteten dies als Angriff und kamen auf ihn zu. Er fühlte sich wie ein gejagtes Tier in die Enge gedrängt und sah keinen Ausweg. Was sollte er tun? Was sollte er machen?
Sein Puls schlug zum Zerbersten, er zitterte. Weg! Weg! dachte er.
Und da war das Fenster. Es stand weit offen. Mit letzter Kraft schwang er sich hinaus. Und sprang.

Es gab eine nichtssagende Todesanzeige von seinen Eltern und eine Anzeige von seinen Freunden. Und wo er begraben ist, weiß ich nicht.
Auf einem Klassentreffen wurde nur gesagt: „ Der hat ja gesponnen. Der war ja schizophren.“ Vom damaligen Klassensprecher, der nun mit dickem Cabrio in die gute Gesellschaft eingeheiratet hat.
Er war so anders und mein Versuch, ihn zu erklären, ist lückenhaft und trifft es vielleicht nicht. Er war ein Mysterium in sich selbst, zu dem er den Zugang verweigerte, verweigern musste. Meine Geschichte zeigt, warum.
Wir waren in London auf einer Klassenfahrt, und er nahm mich mit zu seinen lieben Verwandten, die mir eine Kette schenkten.
Ich fand die Kette kitschig und entsorgte sie. Hätte ich sie doch behalten…

Autor:

Ingrid Dressel aus Bochum

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