Theater Unten: eine Bühne für den "Herbst-Blues", die Depression und den Burn-out

Lesung der Schauspieler Marco Massafra, Anke Zillich und Matthias Redlhammer (v. L.)
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  • Lesung der Schauspieler Marco Massafra, Anke Zillich und Matthias Redlhammer (v. L.)
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Eine beeindruckende und vielseitige, ebenso informative wie unterhaltsame Veranstaltung konnten am Samstag, 17.11.12 rund
100 Zuschauer im voll besetzten „Theater Unten“ des Schauspielhauses Bochum erleben.

Unter dem von Schauspielseite geprägten Titel „Raus aus dem Herbst-Blues“ begegneten Schauspieler des Schauspielhauses und Mitglieder des Bochumer Bündnis gegen Depression dem Burn-out und der Depression von der literarischen, der künstlerisch-kreativen und der wissenschaftlichen Seite.

Mit der spontanen und offenen Bereitschaft zu einer ungewöhnlichen Kooperation mit einem außergewöhnlichen Programm hatte Chefdramaturg Thomas Laue eigenen Worten zufolge die Hoffnung und Erwartung verknüpft, auch etwas über die Erkrankung lernen zu wollen.

So war das Ergebnis der Zusammenstellung verschiedener kurzer Vorträge, Lesungen, einer Malaktion und musikalischer Darbietungen auf einem Theremin denn auch ein entsprechend ausgewogenes Miteinander der beteiligten Schauspieler, Experten und Betroffenen.
In der zwanglosen Atmosphäre gespürter Gleichstellung durfte ganz entgegen sonstiger Theaterregeln zwischendurch sogar auch aufgestanden werden, um sich mit einem Kaffee zu versorgen oder einfach durchzuatmen.

Nach einer Begrüßung durch den Dramaturgen, der in seiner unkomplizierten Art gleichermaßen aufgeschlossen und respektvoll selbst durch das Programm führte, gab Jutta Rosenboom, Heilpraktikerin für Psychotherapie, eine kurze Einführung in die von ihr am Bühnenhintergrund angebotene Malaktion, deren Ergebnisse während der Veranstaltung fortlaufend für alle sichtbar aufgehängt wurden.

An eine erste Lesung der drei Schauspieler Marco Massafra, Matthias Redlhammer und Anke Zillich zu dem bedrückenden „hin und her“ menschlicher Gemütszustände schloss sich der erste Vortrag an.
Prof. Dr. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor der LWL-Klinik Bochum referierte kurz und prägnant zur Erkennbarkeit von Burn-out und Depression.
Die anschließende Möglichkeit zur Diskussion entspannte das Programm, öffnete die Veranstaltung dem Publikum und gab ihm Zeit, sich fragend einzubringen.

Der weitere Verlauf des Nachmittags wurde zu einer abwechslungsreichen Präsentation weiterer Ausschnitt-Lesungen der Schauspieler („Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace und „Briefe aus dem Wolkenkuckucksheim“ von Sebastian Schlösser) und zweier kleiner Vorträge bzw. Lesungen:
Hans-Jürgen Koch, Mitglied der Selbsthilfegruppe „Oase“ berichtete von seinen Erfahrungen mit der Depression, von seiner leidvollen Konfrontation mit verschiedenen somatischen Untersuchungsmethoden und dem Vorwurf des Simulantentums bis zur endlich richtigen Diagnostizierung und der schließlich erfahrenen Hilfestellung und Stabilisierung durch die Selbsthilfegruppe.

Natalia Rak, Studentin der Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum schilderte anhand der eigenen Kurzfassung des Spiegel-Berichts „Das Leiden der Anderen“ (SPIEGEL WISSEN 1/2011) sehr anschaulich und tiefgehend die Depression aus der Sicht der Angehörigen und deren Leiden unter dem Leid des Betroffenen, das sie letztlich selber zu Betroffenen, Teilnehmern von Selbsthilfegruppen und Psychotherapie-Patienten werden lässt, wenn Selbstfürsorge außer Acht bleibt und sie das Stigma der Erkrankung mit herunterreißt.

Zwischen den Beiträgen und den sich anschließenden Diskussionen setzte die aus dem Iran stammende Dortmunderin Gilda Razani http://www.gildarazani.de/de/?page_id=13www.google.de mit ihren Darbietungen am Theremin beeindruckende musikalische Akzente.
Sie gilt weltweit als eine der wenigen, die das berührungsfreie Spielen dieses besonderen, 1919 von Leon Theremin erfundenen elektronischen Musikinstruments beherrscht.
Ihr Können stellte sie in vollster Körperbeherrschung und Konzentration auf Gehör und Führung der Hände innerhalb des erzeugten elektromagnetischen Feldes mit dem „Ave Maria“ von Schubert, mit „La vie en rose“ und „Over the rainbow“ unter Beweis.

Mit Blick auf die im Hintergrund sichtbar mitlaufende Laptop-Uhr wurde recht bald deutlich, dass die ursprünglich vorgesehenen Programmpunkte geeignet waren, den Nachmittag mehr als reichlich zu befüllen und die Zeit nicht reichen würde.
„Wir sehen die Programmgestaltung ganz entspannt“
hatte der Dramaturg bereits von Anfang an verlauten lassen und so erstreckte sich die erste „Halbzeit“ auch entsprechend zwanglos in die zweite Hälfte der mit drei Stunden veranschlagten Veranstaltung.
Die bewusst gewollte Einbeziehung des Publikums durch Ermöglichen von Fragen forderte ihren Tribut: eine spontane Straffung des ursprünglich vorgesehenen Programmablaufs wurde nötig. Die erforderliche Flexibilität zur Streichung von Lesungen und Vortragsteilen zeigte hingegen auch die Vielfalt der Möglichkeiten, sich von Seiten der Fachkundigen wie auch von Seiten der Betroffenen und der Literatur des Themas Depression und Burn-out anzunehmen.

Einen interessanten Kontrast zur rein verbalen Vermittlung von Expertenwissen setzte
Sabine Schemmann
, seit März 2. Vorsitzende des Vereins.
Mit einer eigens für diesen Nachmittag zusammengestellten elfminütigen Fotopräsentation nahm sie die Anwesenden mit auf eine fotografisch-musikalische Reise durch das innere Erleben der Depression als einer „leidvollen und schweren Krankheit jenseits der Vorstellungskraft“.
Die tatkräftige technische Unterstützung durch Sohn
Jan-Martin Schemmann
sicherte den reibungslosen Ablauf der kleinen Filmproduktion und mit ihr auch die Erreichbarkeit der Zuschauer.

Der erste öffentliche „Vortrag“ der mit der Depression selbst gut vertrauten Vorsitzenden ließ durch den emotionalen Tiefgang der mit Klaviermusik unterlegten Bildsequenzen die Bedrückung der seelischen, oft ausweglos erscheinenden Krankheit spürbar werden.
War während der Präsentation noch das eine oder andere ergriffene Atmen oder Schniefen hörbar, so herrschte mit dem Abspann, der die Ernsthaftigkeit und potentielle Tödlichkeit der Depression begreifbar werden ließ, fast schon beängstigende Stille, die zu durchbrechen im Anschluss Aufgabe des Dramaturgen und Dr. Jürgen Höfflers wurde.

Der Chefarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie des Martin-Luther Krankenhauses Wattenscheid referierte mehr als passend im Anschluss an die Dokumentation zum Thema „Psychopillen“.
Er verdeutlichte die Möglichkeiten der modernen medikamentösen Behandlung einer Depression, die man heute aufgrund der durchlaufenen Weiterentwicklung weder als abhängig machend, noch als Müdigkeit verursachend oder als „Dickmacher“ bezeichnen könne.

Im Anschluss an die Vorstellung des Vereins „Bochumer Bündnis gegen Depression“ und seiner zurückliegenden Veranstaltungen und Vorträge durch Dr. Knut Hoffmann, 1. Vorsitzender des Vereins und stellvertretender Ärztlicher Direktor der LWL-Klinik übernahm Sabine Schemmann noch einmal die Programmgestaltung von Betroffenenseite.
Mit der Lesung ihres selbstverfassten Beitrags „Behandlung in der Warteschleife“ verdeutlichte sie die aktuell noch immer leidvolle Situation des Betroffenen zwischen Depression und Suche nach dem psychotherapeutischen Behandlungsplatz.
Die Eigendokumentation, deren Originalfassung unter http://www.lokalkompass.de/bochum/ratgeber/behandlung-in-der-warteschleife-zwischen-depression-und-suche-nach-dem-psychotherapeutischen-behandlungsplatz-d214833.html nachgelesen werden kann, verarbeitet die über Wochen andauernden Versuche des „Ergatterns“ eines Therapieplatzes, bei denen auf die angebotene Therapieform schließlich keine Rücksicht mehr genommen werden konnte. Ansatzweise tragbar blieben die erschütternden Erfahrungen nur insofern, als deutlich wurde, dass daraus ein öffentlicher Beitrag werden musste.

Mit der heiteren Lesung von Matthias Redlhammer aus „Die Känguru-Chroniken“von Marc-Uwe-Kling fand ein langes Programm seinen Abschluss, das den Erwartungen des Publikums offenbar entsprochen hatte. Obwohl der zeitliche Rahmen die terminierten drei Stunden dann doch um eine halbe Stunde überschritt, blieb die Mehrzahl der Zuschauer bis zum Ende im Saal.

Aus Sicht des Bündnis gegen Depression darf der Nachmittag gegen „Herbst-Blues“, Depression und Burn-out sicher als ein gelungener Höhepunkt der bisherigen Vereinstätigkeit bezeichnet werden.
Es machte die besondere Authentizität dieser Veranstaltung aus, dass Behandelnde und Betroffene zum ersten Mal gemeinsam die Gelegenheit ergriffen, an die Öffentlichkeit heranzutreten, um gleichberechtigt aus ihrer jeweiligen Sicht auf die Erkrankung zu berichten und Erlebtes nachvollziehbar zu vermitteln. Depression wird weitaus besser greifbar, wenn sie ein "lebendiges" Gesicht erhält.

Die Aufgeschlossenheit des Schauspielhauses, das der Erkrankung eine kulturelle Bühne zur Verfügung stellte, darf sicher als wichtiger Impuls zur Enttabuisierung der Depression erlebt werden. Dabei dürfte eine wesentliche Rolle spielen, dass die Erkrankung vor den Reihen der Schauspieler, der Regisseure und der Autoren keinen Halt macht, aus deren Werken die Schauspieler gelesen haben:

David Foster Wallace, US-amerikanischer Schriftsteller, verstarb nach zwanzigjährigem Leiden unter der Depression nach mehreren vergeblichen Versuchen der Behandlung im Alter von nur 46 Jahren durch Suizid. In seinem Roman thematisiert er u.a. Drogenabhängigkeit, Depression und Kindesmissbrauch.

Sebastian Schlösser, Theaterregisseur, leidet an einer bipolaren Störung. Mit der Diagnose „manisch-depressiv“ landete er in der Psychiatrie. Seine Erfahrungen mit der Behandlungsstätte und der „Meise in seinem Kopf“ verarbeitete er in Briefen an seinen damals knapp zweijährigen Sohn Mats.

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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