Blaues Wunder

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Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war blau, ich nüchtern und mir war auf der Stelle klar, dass ich ohne sie nicht leben wollte. Eigentlich war ich schon auf dem Weg nach Hause, als sie in meinen Blick geriet; nur noch kurz dieser kleine Umweg… Es war diese eine dumme Schwachstelle, mein starker Hang zu Umwegen, dieses klitzekleine „nur noch kurz mal hierhin schauen, nur noch kurz mal da lang gehen“, das mein Leben fortan auf den Kopf stellen würde. Manchmal entscheiden die Sekunden…

Sie war wunderschön, so wie sie da vor mir stand. So vollendet schön, dass mein Blick nicht von ihr loskam, obwohl ich es versuchte. Ich schaute rechts und schaute links, um ihr und mir zu zeigen, dass ich mich nicht verführen ließ. Es war zwecklos. Diese Schönheit in Perfektion zog meine Blicke auf sich, als zöge sie an einem Gummiband. Ich war ihr längst verfallen, kam nicht von ihren Formen los und streichelte sie so lange mit den Augen, bis klar war, dass sie mit mir nach Hause kommen würde.

In einer neuen Liebe durfte man nichts überstürzen. Ich behandelte sie ausgesprochen liebevoll und sehr behutsam. Wir mussten uns ja erst einmal an uns gewöhnen. Ich wollte da auch keinen Fehler machen. Bevor ich mich auf sie stürzen und in ihre Tiefen vorstoßen würde, hieß es unbedingt einen kühlen Kopf bewahren. Ich musste überlegt und planvoll vorgehen. Schließlich würde sie viel schlucken müssen und ich musste wissen, wo das alles blieb. Ich war schon immer sehr kontrollbedürftig und das würde sich auch nicht mehr ändern.
Eines Tages aber fand ich, dass es an der Zeit sei. Ich nahm sie mir, ergründete mit beiden Händen ihre Formen und mit den Fingern ihre Tiefen und stellte fest, dass das gar nicht so schön war, wie ich es mir versprochen hatte. Auch wenn sie sich überall unglaublich weich anfühlte, war sie längst nicht so perfekt, wie sie ausgesehen hatte. Wie blind doch Liebe machte.

Nach ein paar Tagen stellte ich ernüchtert fest, dass das hier eigentlich wie immer war: Erst verliebte man sich hemmungslos und dann fingen irgendwann die Probleme an. Ich hatte große Schwierigkeiten damit, sie ständig an meiner Seite zu haben und sie in mein Leben einzubinden. Was aber sollte ich tun? Indem ich sie mitgenommen hatte, hatte ich auch die Verantwortung für sie übernommen. Zurückbringen konnte ich sie schlecht. Und damit war nun ein für alle Mal klar: ich trug eine schwere Last auf meinen Schultern und musste zusehen, wie ich damit zurechtkam.

Meine neue Liebe stellte mich vor Herausforderungen, mit denen ich so nicht gerechnet hatte. Der Umgang mit ihr war alles andere als einfach. Seit wir den Bund fürs Leben geschlossen hatten, fand ich nichts mehr wieder. Aus irgendeinem Grund versteckte und verschüttete sie alles. Es stimmte: Jede neue Handtasche war wie ein kleiner Umzug und spätestens im Alltag erlebte man mit ihr sein blaues Wunder. Mein wunderschönes, weiches blaues Wunder mit den vielen Außentaschen und den Reißverschlüssen und den tiefen Innentaschen und den tiefen Innentaschen mit den Reißverschlüssen und der Extra-Tasche für das Handy, das ich gar nicht habe, führt jedenfalls dazu, dass so mancher jetzt noch länger auf sein Geld warten muss, während mir gleichzeitig die Nase läuft, weil ich in den Tiefen meiner neuen blauen Lederhandtasche weder die Packung mit den Taschentüchern, noch den Geldbeutel ausreichend zügig finden kann.

Vielleicht hätte ich doch meiner Alten treu bleiben sollen. Das einzige, womit ich mich momentan trösten kann, ist: was ich nicht finden kann, finden andere, die es nicht finden sollen, dann vielleicht ja auch nicht. Bleibt mir die Hoffnung, dass mich mein blaues Wunder zuverlässig vor unbefugten Eingriffen in private Tiefen schützt.

© Sabine Schemmann, Freie Erzählungen März 2015

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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