IS-Terror: Bochumerin besucht Kriegsgebiet im Irak

Jilan Abdal übergibt Medikamente für die Flüchtlinge an Ärzte und Helfer in Baadre. | Foto: Abdal
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Jilan Abdal ist Jesidin und kommt ursprünglich aus dem Nordirak. Sie gehört jener religiösen Minderheit an, die seit dem Vormarsch der Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) im August 2014 systematisch vertrieben, versklavt und ermordet wird. Sie erzählt in einem Gespräch mit dem Stadtspiegel, dass durch den Völkermord im Nordirak auch ihr eigenes Leben aus den Fugen geraten ist. Deshalb reiste sie in das Kriegsgebiet und leistete Hilfe.

Ausgelöst durch den Vernichtungsfeldzug des IS wurden über 430 000 Jesiden in der Region Shingal im Nordirak zur Flucht gezwungen. Etwa 3 000 jesidische Männer wurden direkt getötet. Über 5 000 jesidische Frauen wurden verschleppt, vergewaltigt und als Sklavinnen missbraucht. Die Bilder des Völkermordes haben die Welt schockiert und die USA zu einem Krieg gegen den IS veranlasst. Mit dem IS-Vormarsch durch den Irak mussten weitere hunderttausende irakische Staatsbürger flüchten und kamen vor allem in Flüchtlingslagern in der Autonomen Region Kurdistan unter.

Lähmende Ungewissheit

Ohne viel Schlaf verfolgt Jilan Abdal im August 2014 jede Nachricht aus dem Nordirak: Ob im Fernsehen, Zeitungen, sozialen Netzwerken oder auf den Propagandaseiten des IS – alles schaut sie sich an. Auch wenn sie aufgrund der vielen Morde und Misshandlungen, die sie im Internet sieht, Alpträume bekommt, ist das für die 24-jährige Bochumerin immer noch besser als die lähmende Ungewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten und Bekannten. Denn der Kontakt zu ihnen ist in diesen Wochen abgebrochen. Sie weiß nur, dass die Terrormiliz die Jesiden massakriert und die Gräueltaten online stellt. Tatsächlich erkennt sie auf diesen Videos Menschen, die ihr nahe stehen und kann deren Ermordung bezeugen.

Selbst ein Bild von der Lage vor Ort machen

Die Architekturstudentin muss mit ihren Kräften jonglieren. Einerseits ist sie in der Abschlussphase ihres Masterstudiums und arbeitet zudem in einem Bochumer Architekturbüro. Andererseits lässt sich die existenzielle Bedrohung ihres Volkes nicht verdrängen. Sie beschließt, in den nächsten Semesterferien Urlaub von ihrer Arbeit zu nehmen und in den Irak zu reisen. Sie möchte die Ohnmacht in etwas Produktives ummünzen und sich ein Bild von der Gesamtsituation im Irak machen. Von den Menschen in den Flüchtlingslagern möchte sie erfahren, was diese benötigen und wie man konkret helfen kann. „Meine Eltern waren erst gegen die Reise. Es ist gefährlich – als Frau noch gefährlicher. In Gesprächen konnte ich sie davon überzeugen, dass ich als Jesidin nicht tatenlos zusehen möchte. Wenn Jesiden angegriffen werden, dann betrifft mich das auch“, schildert Jilan Abdal. Sie beginnt Medikamente und Geld zu sammeln und fliegt Mitte Februar zu ihren Verwandten in die Nähe von Mosul.

Völkermord an den Jesiden

Auf die Frage, ob es das Leben verändert hat, im Kriegsgebiet gewesen zu sein, antwortet Jilan Abdal: „Es nimmt einen schon mit, aber wir Jesiden kennen das schon aus Erzählungen. Der jetzige Genozid ist der 74. Völkermord in der Geschichte der Jesiden. Erschreckend ist, dass die heutigen Bilder der Gewalt denen aus Überlieferungen von vor hunderten Jahren gleichen. Man denkt einfach nur: Was ist denn jetzt los? So ein Terror kann im 21. Jahrhundert doch nicht mehr möglich sein! Aber die Terroristen haben buchstäblich die Tore zur Hölle geöffnet. Das bedrückende Gefühl verfolgte mich auf jedem Schritt durch die Flüchtlingslager“, schildert die 24-Jährige.

Die Frauen erzählten offen von ihrem Schicksal

Abdal besuchte die nord-irakischen Flüchtlingslager Baadrê, Xanikê, Sharya und Duhok. „Wenn die Frauen mir von ihren Erlebnissen erzählten, fühlte ich mich in eine andere Welt hineinversetzt. Die Kinder mussten ansehen wie ihre Väter vor ihren Augen erschossen und ihre Mütter von den Terroristen verschleppt wurden. Jedes der unzähligen Zelte ist voll mit Menschen, die alle unvorstellbare Gräuel über sich ergehen lassen mussten.“ Per Los seien die Mädchen unter den IS-Kämpfern verteilt worden. Diese nahmen ihre Menschenbeute – teilweise gerade einmal neunjährige Mädchen – mit an die Front. Dort seien sie mehrfach am Tag von bärtigen alten Männern vergewaltigt worden. Wenn sie nicht das taten, was man von ihnen verlangte, schlug man sie fast bewusstlos oder machte sie mit Drogen gefügig. Andere folterte man mit Elektrostößen. Abdal berichtet auch von einem Video, das sie gesehen hat, in dem vierjährige Jungen mit Schlägen hart gezüchtigt und gefügig gemacht wurden. Solche Kinder schicken die Terroristen des IS dann versehen mit Sprengstoffgürteln wieder zurück in ihre Dörfer – als lebende Bomben.

Europa ist die größte Hoffnung

Die Bochumerin spendet Trost, verleiht den Frauen Gehör und versucht, ihnen Hoffnung zu geben. „Die meisten der Frauen, die entweder flüchten konnten oder freigekauft wurden, haben einen Selbstmordversuch hinter sich. Sie sind stark traumatisiert und müssen nun in Zelten mit fremden Menschen wohnen“, sagt Jilan Abdal. Die humanitäre Situation sei angesichts der dramatischen Erlebnisse angespannt. Die staatlichen und nicht-staatlichen Hilfsorganisationen seien völlig überfordert angesichts der großen Menschenmassen, die auf der Flucht sind. „Viele Menschen leben einfach am Straßenrand, weil sie es gar nicht in die Lager schaffen“, erklärt die junge Architektin. Sie möchte den Menschen vor Ort weiterhin helfen und plant auch, erneut ins Krisengebiet zu reisen. Derzeit organisiert sie ein Hilfsnetzwerk in Nordrhein-Westfalen. Über die jesidischen Gemeinden und mit Hilfe einer jesidischen Frauenorganisation sammelte sie über 3 000 Unterschriften für eine Petition, die sie demnächst dem Europäischen Parlament vorlegt. Die Bochumerin möchte damit bewirken, dass eine medizinische Delegation die Situation vor Ort begutachtet, dass mehr Lager im Kriegsgebiet eingerichtet werden und dass psychosoziale Zentren zur Therapie der traumatisierten Frauen in kriegsfreien Gebieten errichtet werden.

Hintergrund

- Die Jesiden sind eine religiöse Minderheit mit etwa 800 000 Angehörigen, die überwiegend im Nordirak, Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei leben.

- Das Jesidentum ist eine monotheistische Religion, die nicht auf einer heiligen Schrift beruht. Die Mitglieder werden in die Religion geboren, wenn beide Elternteile Jesiden sind. Die Heirat eines Andersgläubigen (egal ob männlich oder weiblich) bewirkt den Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft.

- Zentral im jesidischen Glauben verankert sind Melek Taus („Engel Pfau“), der Scheich Adī ibn Musāfir sowie sieben Mysterien. Das Grab von Scheich Adī im irakischen Lalisch-Tal ist das Hauptheiligtum des Jesidentums und Ziel einer jährlichen Wallfahrt.

Autor:

Harald Gerhäußer aus Bochum

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