Einsam gestrandet – Orbus nimmt Flüchtlingskinder auf

Beim Tischkickern mit ihrem Betreuer können die sechs- bis 14-jährigen Kinder der Wohngruppe alles vergessen. | Foto: Andreas Molatta
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  • Beim Tischkickern mit ihrem Betreuer können die sechs- bis 14-jährigen Kinder der Wohngruppe alles vergessen.
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Wenn man das Haus der Wohngruppe Orbus betritt, fühlt man sich sogleich wohl. Die moderne Einrichtung mit bunten Farbtupfern vermittelt Wärme und Offenheit. Orbus bedeutet auf Latein „verwaist“. Der Name spricht Bände, denn die Wohngruppe bietet unbegleiteten zugewanderten Kindern eine Bleibe.

„Die Zimmer sind sehr geräumig und mit Sicherheit größer als viele Kinderzimmer der Altersgenossen. Doch ohne Eltern in einem fremden Land, da darf das Zimmer für die Sechs- bis Vierzehnjährigen schon mal größer ausfallen“, sagt Carolin Hoffmann, Leiterin der Wohngruppe. Orbus entstand, weil man in der Wohngruppe Globus, dort werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht, den Bedarf dafür sah. „Es kam dort schon mal vor, dass es an der Tür klingelte und Kinder fragten, ob sie dort wohnen können“, schildert Carolin Hoffmann. Sie wurden von ihren Eltern zur Flucht den Verwandten überlassen, haben auf der Reise ihre Eltern verloren oder wurden allein in der Hoffnung losgeschickt, mit ihrer Einreise einen Nachzug der gesamten Familie zu ermöglichen. Da aber ein Sechsjähriger eine andere Ansprache und Geborgenheit sucht als ein Siebzehnjähriger, war schnell klar, dass eine neue Form der Jugendhilfe eingerichtet werden muss.

Linden ist genau der richtige Ort
In Linden fand man eine passende Immobilie und mit der Zeit stellte sich heraus, dass Linden für die schon schulpflichtigen Kinder genau das richtige Pflaster ist. Hier können sie nach ein paar Wochen, in denen die sechs für die Wohngruppe angestellten Sozialpädagogen mit den Kindern den Schulweg üben, alleine zum Unterricht gehen. Orbus arbeitet auch mit Hausärzten und Zahnärzten aus der Nachbarschaft zusammen, um den Gesundheitszustand und das Wohlbefinden der Kinder zu steigern. Einmal in der Woche ist die Lindener City dann der Höhepunkt für die Kleinen: Dann gibt es Taschengeld und sie dürfen losziehen. Süßigkeiten, Nagellack oder Spielzeug, das sind ihre Schätze. „An diesen Tagen herrscht in der Abendrunde immer gute Laune“, erklärt Carolin Hoffmann. Hier darf jedes Kind seinen Gemütszustand mittels eines Emoticons zum Ausdruck bringen. Das Bildchen zeigt, wie der Tag für das Kind war. Ob es sich freute oder ärgerte, traurig war oder Angst hatte. „An manchen Tagen, etwa wenn neue Kinder kommen, kann es schon mal drunter und drüber gehen. Damit aber keines der Kinder untergeht, haben wir dieses Ritual vor dem Schlafengehen“, sagt die Leiterin.

Tagesstruktur und Rituale geben Halt
Aus festen Ritualen und einer klaren Tagesstruktur besteht jeder Tag der Kinder. Los geht es ab frühestens um sechs Uhr. Was auf dem Programm steht, finden sie auf einer großen Tafel im Esszimmer. Hier zeigen kleine Bildchen, ob nach der Schule ein Arztbesuch oder Ausflug ansteht, jemand Geburtstag hat oder Duschtag ist. Auch die Zimmer zeigen Piktogramme: So hat jedes Kind sein Tier: Löwe, Esel, Pferd, Ratte, Schwein, Katze, Hase, Gans. Das Bildchen findet sich an einem der zehn Zimmer, aber auch am Zahnputzbecher, am Handtuchhaken und so weiter.

Wenn die Kinder in der Schule sind, ist es ruhig im Haus. Dann besprechen sich die Betreuer. Die Jungs und Mädchen haben einen direkten Ansprechpartner. Er oder sie geht mit ihnen zum Einkaufen oder unternimmt mit ihnen einzelne Aktivitäten. Am Wochenende und nachts ist auch immer nur ein Betreuer im Haus. Dann wird gemeinsam gekocht, gebastelt oder gespielt.

Zurück von der Schule sollen die Kinder erstmal ihren Tonnister zeigen und die Brotdose aufräumen. Dann wird gegessen. An einem langen Tisch mit bunten Stühlen treffen sich alle. Danach geht es in die Mittagsruhe, in der die Kinder spielen, sich ausruhen oder schon Hausaufgaben machen dürfen – ganz wie sie wollen. „Wir möchten, dass sie lernen, sich selbst zu beschäftigen, wie das in einer Familie auch wäre“, erklärt Carolin Hoffmann. Zweimal in der Woche haben sie Deutschunterricht. Ab 17 Uhr finden die Abendruhe und anschließend das Abendessen statt. Wenn alle Sachen für den nächsten Schultag gepackt sind, steht – je nach Alter – auch noch ein Film auf dem Programm.

Die Kinder leben im Hier und Jetzt
Auf die Frage, wie die Kinder mit der Situation umgehen, fernab der Eltern und der Heimat zu sein, antwortet Carolin Hoffmann: „Zunächst geben wir den Kindern Zeit und sprechen die Dinge gar nicht an. Kinder leben in der Gegenwart. Sie sehen nicht das große Ganze. Das ist anders in der Gruppe Globus. Den Jungs und Mädchen dort ist ihr Aufenthaltsstatus bewusst. Bei den Kindern zählt nur, wo die Mama ist und wann die Familie wiederkommt. Darauf reagieren wir dann mit Ehrlichkeit und versuchen, durch Struktur und Rituale Geborgenheit zu erzeugen, Erst später folgt dann die Biographiearbeit.“

Orbus ist die jüngste der zehn Jugendhilfeeinrichtungen des Vereins St. Vinzenz. Zwölf Kinder waren seit Februar bereits in der Orbus-Obhut. Derzeit sind wieder Plätze frei. Das Angebot ist bewusst städteübergreifend. Auch Kinder aus Essen, Hattingen oder Wuppertal können nach Linden kommen. „Wir sind richtig glücklich über die herzliche Aufnahme im Stadtteil. Vom Bezirksbürgermeister, über die Ärzte bis hin zur direkten Nachbarschaft sind alle sehr freundlich zu uns“, so Hoffmann.

Autor:

Harald Gerhäußer aus Bochum

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