Eine Frage des Gewissens

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Er hockte da, als ich mit dem Fahrrad um die Ecke bog, um zur Sitzung in die Einrichtung zu fahren, in der sie immer stattfand. Ich war spät dran, er aber hatte unverkennbar Zeit. Er hockte einfach nur so da, lehnte mit dem Rücken an der Wand der Brücke, die über gebündelt viele Gleise führte, und schaute vor sich hin; neben sich ein Rucksack und eine Flasche Bier.

Im Vorbeifahren warf ich ihm einen kurzen Blick zu. Wie lange er schon wartete und wie lange er noch warten würde, war ihm nicht anzusehen. Seine Erscheinung war relativ gepflegt, er hatte kurz geschnittene Haare, ordentliche Kleidung und wirkte nicht betrunken. Obwohl ich ihn nicht kannte, kam er mir irgendwie bekannt vor. Er erinnerte an einen Mann, den sie mit Foto in der Zeitung suchten, weil er seit mindestens drei Wochen schon verschwunden war.
Er würde es nicht sein, viele Menschen ähneln sich, wenn schon allein der Haarschnitt stimmte. Trotzdem ließ er mich nicht los, weil er nicht so aussah, als ob er Hoffnung hätte, dass in absehbarer Zeit auch nur irgendjemand kommen würde, auf den das Warten lohnte, geschweige denn, dass es ein Zuhause gab, das einen Sinn für ihn erfüllte.

Das Bild des Mannes gedanklich mit dem Foto aus der Zeitung abgleichend, trat ich ordentlich in die Pedale und schaffte es, die Sitzung pünktlich zu erreichen. Bis zum Platzen mit Sitzungsinhalten, Planungen und einer extrem erschöpfenden Erkältung angefüllt, nahm ich neunzig Minuten später den gleichen Weg zurück. Dass ich den Mann in dieser Zeit längst wieder vergessen hatte, stellte ich erst fest, als ich ihn stehen sah. Unverändert an derselben Stelle auf der Brücke über diese viele Bahngleise, die in Richtung Bahnhof führten. Er stand da wie angenagelt, tat nichts und schaute nur.

Die Situation, die ein gewisses Maß an Ausweglosigkeit in sich zu transportieren schien, gefiel mir nicht. Wenn man sich aktiv in einem Bündnis gegen Depressionen engagiert und um die Tücke der Erkrankung weiß, die von innen auffrisst und den Blick des Kranken nur noch in eine Richtung lenkt, schaut man aus einer anderen Perspektive auf die vermeintlich alltäglichen Dinge und vielleicht sensibler auf die Menschen rings um sich herum. Ich konnte deshalb diesen Menschen, der mindestens anderthalb Stunden lang an ein- und derselben Stelle auf einer Brücke stand, nicht einfach unbeachtet stehen lassen.

Als die Autos auf der Straße ein Queren möglich machten, schob ich mein Fahrrad zu ihm hin.
„Entschuldigung. Darf ich Sie fragen, ob es ihnen gut geht? Sie sind mir vorhin schon aufgefallen.“
Wie sprach man einen Menschen an, um den man sehr besorgt ist, ohne ihn gleich zu belästigen?
„Ja“, sagte er und schaute mich an. Sein Blick war nicht ganz klar, ein wenig gläsern, jedoch nicht betrunken, nicht unbedingt sortiert, aber auch nicht völlig abwesend.
„Doch es geht mir gut“, sprach er ohne große Emotionen. Ich musterte ihn zweifelnd und nach Anhaltspunkten suchend, die bestätigten, dass es ihm wirklich gut ging. Ich fand sie nicht.
„Sind Sie sicher?“ fragte ich deshalb noch einmal nach.
„Ja“, antwortete er, ohne dass es mich groß überzeugen konnte. „Ich kucke hier nur.“ Seine rechte Hand fuhr vage in Richtung der über den Gleisen untergehenden Sonne und über die Gleisanlagen.
„Wirklich?“ Ich schaute ihn noch immer intensiv und zweifelnd an.
„Ja“. Er hielt dem Blick in meine Augen stand, ohne genervt zu wirken.
„Kann ich mich darauf verlassen? Versprechen Sie mir, dass das stimmt?“ Noch immer schaute ich nach Wahrheit in den Worten suchend mit intensiv besorgtem Blick in seine Augen, um ihn möglichst festzuhalten.
Wie mögen sich die Psychotherapeuten fühlen, wenn sie scannen müssen, ob der Patient gefährdet ist, den sie vor sich haben?
„Ja“,
antwortete er noch einmal und fügte ein „danke, dass Sie gefragt haben“ hinzu.

Er schien meine Besorgnis folglich zu verstehen und es nicht schlimm zu finden, dass ich ihn angesprochen hatte. Beruhigt war ich durch seine Worte jedoch nicht. Ihn weiter zu behelligen stand mir aber auch nicht zu. Und als Frau schon besser gar nicht.
Ich ließ ihn stehen, wo er stand und fuhr weiter, das Gesicht noch immer in Gedanken festhaltend.

Wie würde ein seit Wochen schon Gesuchter sich verhalten, der - weshalb auch immer - aus seinem Leben ausgerissen war und den Weg zurück nicht fand, weil Menschen auf Erklärung warteten, die er nicht geben konnte, wenn die innere Verfassung nur noch ein blankes Chaos war? Würde er an einer solchen Stelle stehen und sein Leben überdenken, um zu dem Schluss zu kommen, dass es kein Zurück mehr gab?

Die Gleise einer Bahnanlage sind stets ein ganz besonderer Ort, der dazu einlädt, das eigene Leben zu beleuchten. Es gibt eine Richtung, die in die Vergangenheit zurückführt, die heilsam sein kann oder Wunden aufreißt, und es gibt die andere Richtung, die noch in die Zukunft führt.
Es gibt eine Richtung, die zurück ins Leben führt und es gibt die Gegenrichtung, die die Zukunft abschneidet, wenn man diesen einen Schritt geht …

Von außen ist es einem Menschen nicht gut anzusehen, ob ihm die Kraft fehlt, sein Leben noch zu leben oder ob es ihn derart überfordert und zerfressen hat, dass er nicht mehr kann und mit dem Untergang der Sonne Abschied nimmt.

Das Gesicht noch immer vor den Augen, kam ich zu Hause an. Wie reagiert man richtig? Wie sahen denn die Fakten aus? In Bochum wird ein Mann gesucht, dem dieser Mann recht ähnlich sieht, auch wenn er es vermutlich gar nicht ist. Und es steht seit einer ungewöhnlich langen Zeit ein Mann ganz unverändert an derselben Stelle auf einer Eisenbahnbrücke von gefährlich ausreichender Höhe und schaut hinunter. Das waren wenig Fakten. Dass er nicht aussah, als ob man auf ihn wartet und nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass er Suizidabsichten hegt oder zumindest in entsprechender Verfassung ist, war schon meine Deutung.
Durch mein Ansprechen konnte ich ihn zumindest ein Stück in die Wirklichkeit zurückgeholt haben, wenn es ihm denn wirklich psychisch schlecht ging. Aber das allein reicht ja nicht aus. Die Fakten waren also mager und trotzdem reichten sie zur Sorge.

Auch wenn mir selbst durchaus bewusst war, dass sich Frauen auf eine andere Art und sehr viel intensiver Gedanken um die Dinge machten, die sie sahen, so ging es eindeutig nicht. So konnte ich nicht schlafen gehen.
Ich fuhr noch einmal los, diesmal mit dem Auto bis zur Straßenkreuzung, an der ich sehen konnte … dass er immer noch dort stand und hinunter auf die Gleise schaute. Jetzt also mindestens zwei Stunden lang. Es wurde dämmrig. Mein Entschluss stand fest.

Zu Hause angekommen wählte ich die Nummer der Polizeidienststelle. Was ich nicht lösen konnte, musste ich in die Verantwortung anderer Menschen legen. Man wird sehr schnell verbunden, wenn man eine solche Meldung machen möchte. Ich gab an, als zweite Vorsitzende des Bündnis gegen Depression eine Person melden zu wollen, die mir wegen ihres Verhaltens Sorgen mache. Ich wolle mir nicht hinterher Vorwürfe machen müssen, vorher nichts gesagt zu haben, erklärte ich und machte meine Angaben. Man versprach, jemanden hinaus zu schicken, um nachzusehen. Was daraus geworden ist, erfährt man dann natürlich nicht mehr.

Auch wenn es mir zunächst erst einmal besser ging, schlafen konnte ich trotz allem nicht besonders gut. War es gerechtfertigt, einem Menschen die Polizei vorbeizuschicken, nur weil er mindestens zwei Stunden lang auf einer Eisenbahnbrücke stand und hinunter schaute? Würde er verärgert sein? Würde er es positiv erleben können, dass sich Menschen umeinander kümmern? Oder wurde ihm vielleicht sogar geholfen, weil er mit sich und seinem Leben haderte, ohne den Schritt in Richtung einer Hilfestellung durch Ärzte oder Psychologen aus eigenem Antrieb gehen zu können, so wie das viel zu viele Menschen immer noch nicht können, weil die inneren Hürden der Inanspruchnahme einer psychiatrischen Klinik oder einer ambulanten Psychotherapie noch weitaus höher sind, als die tödliche Höhe einer Eisenbahnbrücke?

Ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass mein Handeln nicht falsch gewesen ist. Obwohl es ein Richtig und ein Falsch eigentlich nicht geben darf, wenn es um ein Menschenleben geht.

© Sabine Schemmann

Autor:

Sabine Schemmann aus Bochum

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