Äthiopien 2013 – Sven Pietsch berichtet über eine "unglaubliche Erfahrung"

Sven Pietsch (hinten) während seiner Reise durch Äthiopien. Fotos: privat
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"Es war schön, spannend, aufregend, rührend, ergreifend, traurig und ungerecht, je nachdem wo man gerade war. Mit dieser Auswahl von Worten lässt sich wohl nahezu jede Erfahrung der letzten zwei Wochen annähernd beschreiben." So beginnt der Castrop-Rauxeler Sven Pietsch seinen begeisterten Reisebericht. Auf Einladung der Stiftung "Menschen für Menschen" unternahm er eine zweiwöchige Reise durch Äthiopien.

Von Sven Pietsch:

"Auf meiner zweiwöchigen Reise durch Äthiopien (und mein erstes Mal auf dem afrikanischen Kontinent überhaupt) besuche ich zwei Projektgebiete: Mida im Hochland nördlich von Addis Abeba und Babile im Osten in Richtung der Grenze zu Somalia. Bei An- und Abreise sowie zwischen den beiden Projektbesuchen verbringen wir wieder eine Nacht in Addis, der äthiopischen Hauptstadt.
Bereits ein Blick aus dem Fenster während des Hinfluges lässt erste Vermutungen zu, was mich hier in den nächsten Tagen wohl erwarten wird.
Ein riesiges braunes Feld, gespickt von Wellblechdächern, die im Sonnenaufgang reflektieren – es sind die Vorboten, die Äthiopiens Hauptstadt ankündigen.
Die Hauptstadt selbst ist ungeahnt groß. Gefühlt minutenlang fliegen wir über Wellblechsiedlungen und Lehmhüttenansammlung. Addis ist riesig, wuselig und in manch wenigen Teilen sogar extrem europäisch.
So wird der Blick auf die afrikanischen Slums am Horizont durch wolkenkratzerartige Glaspaläste ergänzt. Trotz der teilweise weitentwickelten Hauptstadt werde ich Äthiopien als Land der Gegensätze erleben. Schon wenige Autominuten außerhalb Addis’ wird sich mir ein anderes Bild von Landschaft und Leuten begegnen.
Auf unserer 6-stündigen Jeepfahrt über meistenteils Schotterpisten und Wüstenboden erlebe ich wunderschöne Landschaften, weite Ausblicke und ungezählte Serpentinenstraßenkilometer. Während unserer Fahrt haben wir Gelegenheit, mitgebrachte Tennis- und Fußbälle an spielende Kinder in den Dörfern zu verteilen.
Das Ansehen von Menschen für Menschen und vor allem von Karlheinz Böhm – hier oft Dr. Karl – ist riesig. Ob am Flughafen, in Bars oder einfach nur auf der Straße. Überall erkennt man uns am MfM-Logo am Auto. Sogar Statuen aus Stein haben die Äthiopier „ihrem Karl“ gebaut, als Dank für seine Arbeit. Unübertroffen wird wohl mein Besuch einer MfM-Krankenstationen in Mida bleiben. Hier operieren sie Trachoma, eine Augenkrankheit, bei welcher die Wimpern nach innen wachsen und das Auge entzünden. Als wir das Gelände durch das Tor zur Station betreten eilt mir eine operierte, ältere Frau entgegen, wirft sich mir zu Füßen und bedankt sich auf Amharisch. Dank Menschen für Menschen hat sie ihr Augenlicht zurückerhalten. Ich beginne festzustellen, wie tief Menschen für Menschen in Äthiopien verankert ist und welche Dankbarkeit der Organisation auch von der Bevölkerung entgegengebracht wird.
Und die Veränderungen sind wirklich beachtlich. Nicht nur klassische Entwicklungshilfe, wie man sie von vielen Organisationen kennt, sondern vor allem die Arbeit mit den Äthiopiern selbst und die daraus resultierenden Einstellungen und Grundhaltungen hat Karlheinz Böhm geschaffen. Es kam ihm wohl zu Gute, dass er damals ohne wirkliches Vorwissen in das Land gereist ist, sich zunächst in Gesprächen mit der Landbevölkerung für die dortigen Probleme sensibilisierte und mit den Bewohner gemeinsam individuelle Lösungsansätze entwickelte.
Wird Menschen für Menschen heute von einem Dorf oder einer Region angesprochen, welche Hilfe ersucht, evaluiert die Organisation das mögliche Projektgebiet. Wenn die Arbeit beginnt, werden gleich zu Beginn die Grundsteine für eine erfolgreiche Arbeit gelegt – Zufahrten und Straßen zum Projektgebiet, Einrichten eines Projektbüros und sichern der Wasserversorgung. Dann fängt die Arbeit mit den Dorfbewohnern an. Sie werden in alle Abläufe mit einbezogen und an allen Entscheidungen beteiligt.

Schulbildung

In Mida besuchen wir eine von Menschen für Menschen gebaute Schule.
Die Schule macht einen freundlichen Eindruck. Zwar gleicht der Boden um die Schule dem braunen afrikanischen Einheitslook, doch vor allem der Vergleich zu einer noch zu renovierenden Schule in Babile macht deutlich, wie sehr sich die Unterrichtsverhältnisse durch die Schulrenovierung verbessert haben. Viele Fenster, bunt hergerichteten Wände, die Schulbänke welche zwar klein aber mit genügend Abstand zum Nachbartisch aufgestellt sind, die kleinen 5er-Gruppen in welchen die Grundschüler lernen und von jeweils einem älteren Schüler betreut werden. Ein Lehrer kontrolliert die Arbeit der Kleingruppen. Die Unterrichtsform macht dein Eindruck eines gut durchdachten pädagogischen Konzeptes. Die Klassengröße hier beträgt ca. 30 – kein Vergleich mehr zu den 97 Schülerinnen und Schülern in der alten Schule in Babile, in welcher man aufgrund der kleinen und wenigen Fenster die Kinder in der hintersten Reihe kaum noch erkennen konnten.
Die neue Schule macht einen gepflegten und gut erhaltenen Eindruck, sie wird von den örtlichen Bildungsbehörden betrieben, welche die Lehrer einstellen und die laufenden Kosten tragen. Die Übergabe von Projekten und Infrastrukturmaßnahmen in die Verantwortung der lokalen Bevölkerung und der zuständigen staatlichen Behörden folgt dem Grundprinzip Karlheinz Böhms „Hilfe zur Selbstentwicklung“. Dies beugt einer dauerhaften Abhängigkeit der Menschen in Äthiopien von ausländischen Hilfsorganisationen vor. Auch das Projektgebiet in Mida läuft Ende des Jahres aus und wird in die Eigenständigkeit übergeben.
Die Äthiopier sind eine eigene Nation, sie haben zu Recht ihren Stolz und eigene Traditionen. Zwar haben wir unserer Meinung nach Wohlstand, Wissen und Macht, dennoch dürfen wir nicht vergessen, wir sind nur Gast in einem Land, was wir zwar behaupten zu kennen, aber im Prinzip doch jeden Tag neue Überraschungen und Geheimnisse für uns bereit hält.
Es sind wahrscheinlich die fast ausschließlich äthiopischen Mitarbeitern (von ca. 800 Mitarbeitern sind gerade einmal 4 Europäer) von Menschen für Menschen, die den Erfolg der Organisation ausmachen, sprechen sie doch nicht nur die Sprache, sondern kennen auch Traditionen und Bräuche.

Landwirtschaft, Erosionsschutz und Brunnenbau

Es ist noch einmal was völlig anderes, die Bevölkerung an sich, aber auch die Arbeit von Menschen für Menschen vor Ort live, mit all den Emotionen, zu erleben. Sicher habe ich im Vorfeld gefühlte 500 mal gehört und auf Bildern gesehen, dass Menschen für Menschen Erosionsschutz durch Renaturierung betreibt und so Dörfer und Felder vor Schlammlawinen bewahrt. Aber ist man vor Ort, so begreift man erst einmal, was das heißt, Erosionsschutz, family planning, Beschneidung und und und…
Terrassen und Wassergräben bilden den Grundstein für Erosionsschutz. Aufgrund von Feuerholzmangel hat die Landbevölkerung viele Steilhänge abgeholzt - mit gravierenden Folgen. In der jährlichen Regenzeit gibt es nun zu wenig Wurzeln, welche den Boden am Hang festhalten. Schlammlawinen und Erdrutsche sind die Folge. Menschen für Menschen entwickelt mit den Dorfbewohnern Hangsicherungskonzepte wie hier Terrassen und Wassergräben. In MfM-Baumschulen werden hunderte Bäume und Sträucher gezüchtet, welche dann wieder auf die Hänge gepflanzt werden. Als Brennholzalternative wird Eukalyptus gepflanzt. Eukalyptus wächst enorm schnell und bietet so effektiven Holzertrag.
Die Arbeit ist vielfältig. Bewässerungsanlagen, Gabionen zur Absicherung des fruchtbaren Boden der Wasserfluten in der Regenzeit (der blaue Nil entspringt in Äthiopien) und natürlich Brunnenbau. Wir vergleichen einen neuen Pumpbrunnen mit einer alten Wasserstelle. Menschen und Tiere trinken nun aus verschiedenen Wasserquellen. Ein wichtiger Schritt zu Vermeidung von Krankheiten.
Wir sehen ein Mädchen, welches Kleidung mit Wasser aus dem „Tümpel“ wäscht. Kurz verliere ich mich in Gedanken an unsere Waschmaschine im Keller. Aber das „Vergleiche anstellen“ lasse ich besser direkt wieder. Überhaupt ist es eine falsche Herangehensweise zu wollen, dass es in Äthiopien eines Tages so aus sieht wie in Europa. Dies wird in absehbarer Zeit nie der Fall sein und je mehr Kontakt ich mit den Äthiopiern aufbaue, desto häufiger kommt mir der Gedanke, dass die Äthiopier ein europäisches Leben auch gar nicht wollen. Immer öfter erkenne ich die Glücklichkeit und Zufriedenheit der Menschen hier, wenn sie ihr Leben führen können, so wie sie es gewöhnt sind. Auch um dies zu verstehen ist meine Reise Gold wert.

Family planning und Kleinkreditprogramm

Mit zu den bewegendsten und aufschlussreichsten Momenten gehören wohl die Treffen mit den Kleinkreditgruppen in beiden Projektgebieten.
Anfänglich schüchtern und abtastend entwickelt sich nach wenigen Minuten ein für beide Seiten aufschlussreiches Gespräch über Geschäftsmodelle, Heiraten, Kinder bekommen und Verhütung in zwei völlig unterschiedlichen Kulturkreisen.
Zum Hintergrund: Menschen für Menschen vergibt Kleinkredite an Frauen. Diese Kredite nutzen die Frauen um ihr eigenes kleines Geschäft aufzubauen und damit für ihre Familie eine zusätzliche Einkommensquelle zu schaffen. Mehrere Frauen schließen sich zu einer Kleinkreditgruppe zusammen und wachsen somit zu einer immer größeren „Gesellschaft“ zusammen. Im einfachsten Fall erhält eine Frau von Menschen für Menschen 1000 Birr, kauft sich davon eine Ziege, zieht diese groß und füttert sie und verkauft sie nach ein paar Monaten für 2000 Birr. Das geliehene Geld zahlt sie mit einem geringen Anleihenprozentsatz (bspw. 5%, also 1050 Birr) nun an die „Gesellschaft“ zurück. Das restliche Geld wird die Frau nun als Gewinn behalten und davon ihren Kindern zum Beispiel Schulsachen kaufen können. Durch das zurückzahlen wächst das Kapital der Gesellschaft immer weiter an, welche dann selbständig über die Vergabe weiterer Kredite an immer mehr Frauen verteilen. Ein positiver Kreislauf welcher nicht mehr auf zuhalten ist.
Die Frauen erzählen teilweise sehr emotional über ihre Geschäftsideen und wie Menschen für Menschen dabei geholfen hat, dass sie nun unabhängig mit ihrem eigenen kleinen Gehalt ihre Familie mit versorgen können. Von der Viehzucht, über Handel mit Kaffee, Gewürzen und weiteren Waren bis hin zu Musikläden gibt es wirklich eine Vielzahl von vielsprechenden Innovationen.
Daran anschließend wechselt das Gespräch zu den Zwischenmenschlichen Themen. Liebe, Sexualität und Ehe, irgendwie sind es doch überall auf der Welt die gleichen Themen, welche die Menschen bewegen.
Heirat mit 12, das erste Kind mit 13, mittlerweile 35 und 8 Kinder und 10 Enkelkinder. Etwas provokativ formuliert ist dies noch vor wenigen Jahren auf dem Land ein möglicher Lebensweg einer äthiopischen Frau gewesen.
Es ist schön für uns zu sehen (wahrscheinlich schön, weil wir mit dem westlichen Auge die Dinge betrachten), dass in den letzten Jahren ein Umdenken in der Gesellschaft stattgefunden hat. Begünstigt durch Aufklärungs- und Verhütungskampagnen durch Menschen für Menschen aber auch durch die äthiopische Regierung bekommen die Frauen heutzutage meist später ihre Kinder und auch deren Anzahl hat sich verringert. Viele jüngere Frauen berichten uns von ihren maximal drei oder vier Kindern heute.
Verschiedene Verhütungsmethoden, welche in den Krankenstationen im Ort eingesetzt werden können, führen nun zu deutlich weniger Schwangerschaften. Menschen für Menschen hat mit seinem Programm erreicht, dass Bewusstsein für die Probleme, die zu viele Kinder mit sich bringen, zu schärfen. Ein Bauer und seine Frau erzählen uns stolz, dass sie nach ihrem ersten Kind ganze 8 Jahre mit dem zweiten Kind gewartet haben. „Weil wir unseren Kindern etwas bieten wollen“, sagen sie noch.

Genauso belustigend finden die äthiopischen Frauen und Männer den europäischen Weg des „Zusammenfindens“. Dass ich mit 21 weder verheiratet bin noch Kinder habe, scheint schon komisch zu sein. Dass ich allerdings bereits mit Mädchen hier zusammen war, wir uns aber wieder getrennt haben, ist für äthiopische Verhältnisse auf dem Dorf wohl schier unmöglich (allein die Beschreibung und die Übersetzung ins Amharische macht da schon Probleme. So entscheiden wir uns, dass deutsche „Zusammensein“ mit dem Wort „testen“ zu umschreiben. Daraufhin liegen dann sprichwörtlich wirklich alle anwesenden Äthiopier lachend auf dem Boden. Aber irgendwie ist es doch so. Wenn ich länger darüber nachdenke fällt mir auf, welche Momente die Jugendlichen dort alle verpassen. Noch schlimmer wenn ich mir vorstelle, die äthiopischen Traditionen auf Deutschland zu übertragen. Dass meine Eltern mit ihren teilweise, naja sagen wir anderen Ansichten, mir eine Frau hätten aussuchen müssen? Was da wohl bei rausgekommen wäre. Lassen wir das lieber! :-P)

Und dann war da noch diese andere Tradition (?). Die Beschneidung von Mädchen für … , ja für was eigentlich?

Eine Reise in die Region und das Gespräch vor Ort kann ja oft vieles erklären, so wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Beschneidung von Jungen unteranderem hygienische Gründe hat und aufgrund der begrenzten Waschmöglichkeiten das Risiko der Übertragung von Krankheiten reduziert.
Bei Mädchen ist mir diese Erleuchtung bis heute nicht gekommen. So finde ich letztenendes dann doch noch eine westliche Sitte, welche ich ohne Überlegung in die afrikanische Tradition übertragen möchte.
Es ist dennoch bemerkenswert, dass Karl in intensiven Gesprächen mit der Bevölkerung und Kirchenvertretern diese Beschneidungstradition bei Mädchen brechen konnte.
Im zweiten Kleinkreditgruppengespräch sitzt die ehemalige Beschneiderin des Dorfes neben ihren früheren „Opfern“. Heute arbeitet sie als Aufklärerin und vermittelt die gravierenden Folgen und Risiken von Beschneidungen. Für mich wird diese Frau zum Inbegriff des Wandels!

Fazit

Ob die Beschreibung von oben vollständig ist? In keinem Fall. Innerhalb kürzester Zeit sammeln sich in diesem Land für mich eine unglaubliche Vielzahl von neuen Eindrücken, Emotionen und Gedanken. Alles wiedergeben werde ich wohl nie, für mich bleiben aber die neuen Einsichten, welche in vielen Fällen auch unserer Leben hier relativieren. Nilflut und Gabionen, Täler und Serpentinen, Malaria und Augenkrankheiten, die Treppe von Mida …Ich könnte die Liste noch unendlich weiterführen.
Fest steht, dass ich von der Arbeit von uns, Menschen für Menschen, überzeugter bin als je zuvor. Die Dankbarkeit der Menschen, welche mir vor Ort begegnet sind, bestätigt einfach, dass unser Weg so wie wir ihn gehen, der richtige ist!"

Autor:

Verena Wengorz aus Castrop-Rauxel

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