Welchen Goya würden Sie denn stehlen wollen?

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Im Voswickelshof wird bis zum 12. September eine hochkarätige Ausstellung „Francisco Goya: Visionen von Schrecken und Hoffnung“ gezeigt.

Von Alfred Grimm

Jeder kennt die Frage: „Welches Buch würden Sie auf eine
einsame Insel mitnehmen, wenn ...?Für diese Ausstellung müsste man diese Fragestellung variieren: “Welches einzelne Bild würden Sie aus dieser Ausstellung sich aneignen, mitnehmen oder sogar aus Besitzgier stehlen wollen?“ Und die Antwort wäre eindeutig: Es wäre fast unmöglich, aus dieser kompakten und reichhaltigen Ausstellung mit ihren verschiedenen Facetten solch ein solitäres Kunstwerk herauszugreifen. Zu groß ist die herausragende Qualität der gezeigten Bilder und Grafiken, seien es nun die von Goya selbst, oder die der nachfolgenden Künstler, die sich bis ins 21. Jahrhundert in ihrer Hochachtung vor diesem spanischen Künstler zu eigenen Variationen anregen ließen.
Wie soll man sich also entscheiden? Hier mein Rat: Gehen oder fahren Sie mutig in die erste Etage des Museums, betreten Sie festen Schrittes diesen Raum, wenden Sie sich dann - ohne nachzudenken – zur Wand zwischen dem Hochsicherheitstrakt mit dem Selbstbildnis Goyas aus unserer Partnerstadt Agen, hier wird Ihnen die Entscheidung abgenommen: Diese drei Radierungen ! Sie zählen zu den Höhepunkten Goyasschen Schaffens!

Ganz rechts: Aus den „Desastres“ Blatt Nr. 19, entworfen und radiert 1810 bis 1813
1. Auflage 1863: „Es ist keine Zeit mehr“. Inhalt: Eine, den Uniformen nach, französische Soldateska will drei spanische, junge Frauen als Kriegsbeute vergewaltigen. Eine Frau liegt am Boden, ein Mann liegt erstochen rechts neben ihr. Die drei lebenden Frauen werden von den Soldaten, denen die Lust auf den brutalen Akt anzusehen ist, aggressiv bedroht. Und jetzt die Gesichter dieser Gemarterten: Dreimal individueller Schmerz und tiefstes Entsetzen – dargestellt in einem Format, das die Größe einer 1-Cent-Münze nicht erreicht. Welch eine grafische Meisterleistung! Dazu die harten, scharfen Formen der Säbel in Kontrast zu den frei und dynamisch radierten Uniformen und Kleidern. Scharf ausgeschnitten das Fenster in der Ruine – alles in Parallelschraffur. Will man den ganzen Ablauf der Szene genau deuten, bleibt letztlich Vieles im Dunkeln – aber trotz der bestialischen Szene: Ein herrliches Stück Grafik.

Nun das mittlere Werk. Desastres, Blatt 34: „Wegen eines Messers“. Inhaltlich ist etwas ganz Einfaches dargestellt, umso schauerlicher und ergreifender die Wirkung: Ein Garottierter, ein mit einem Würgeisen erdrosselter Mann, sitzt steif an einen Pfahl gefesselt. Eine gesichtslose, fast amorphe Masse von Neugierigen ist zu sehen, dem Blick des Betrachters fast verborgen durch die Hinrichtungsbühne, auf der schwarz und massig der hingerichtete Delinquent sitzt. Dessen Gesicht muss man mit der Lupe studieren: Seine Mimik ist erstarrt, abstehend und borstig stehen die Haare vom Schädel ab, ein gequälter, letzter Atemhauch ist dem ringförmig erstarrten Mund entwichen. Das Drehkreuz des Würgeisens ragt seitlich hinter dem Kopf heraus, ebenso das christliche Kreuz, das man in die geballten Fäuste geschoben hat. Auf der Brust kaum zu erkennen – und welcher Besucher hat es im Vorbeigehen denn schon entdeckt – hat Goya das eine kleine Küchenmesser, um dessen Willen der Arme hingerichtet wurde, mit zarten Umrissen radiert. Wenn es nicht gar zu pervers wäre: Alles das ist – wie mir scheint – noch nach den Gesetzen des Goldenen Schnitts komponiert! Welch eine entsetzliche Information über den Kriegsalltag, welch ein grandioses Kunstwerk.

Schließlich das Bild links mit den Hinrichtungen: Desastres Nr. 15: „Es gibt kein Gegenmittel“. Welch eine verzweifelte Erkenntnis von Goya und wie genial hat er sie künstlerisch umgesetzt! Er radierte drei aufgerichtete Stämme, an denen Männer gefesselt sind. Die Augen sind verbunden, die Köpfe gesenkt, die Körper gedrungen, die Körperachsen aber noch unter hoher Spannung und damit kontrastiert im Vergleich zu den verrenkten, schlaffen Gliedern des Erschossenen am Boden. Man muss sich in die verschiedenen Hell-Dunkel-Werte und die Schraffuren langsam einsehen, dann das Erschießungskommando der Franzosen im Mittelgrund studieren und dann die Gewehrläufe betrachten, die heftig angeschnitten, aber umso bedrohlicher, von rechts in den Bildraum ragen. Deren technisch kalte Präsenz lassen das bestialische Blutvergießen in den nächsten Minuten eindringlich ins Bewusstsein dringen. Auf dieser Grafik aus den Jahren um 1810 werden Momentaufnahmen künstlerisch gestaltet, die erst Jahrzehnte später film- und fototechnisch realisiert werden konnten.

Was ist denn jetzt passiert? Musste ich nicht – statt drei Grafiken kurz zu besprechen - mich für EIN Blatt, für EIN Bild entscheiden, das ich abnehmen und auf eine Insel mitnehmen sollte? Hätte ich mich dann nicht besser für die kleine Grafik „Kann uns denn niemand losbinden?“ entscheiden sollen? Oder wäre das große Blatt „Grausame Torheit“ nicht noch wichtiger gewesen? Oder vielleicht „Die allgemeine Torheit“? Nein, ich hätte eine Arbeit des zeitgenössischen, chinesischen Künstlers Yongho Jhao herausgreifen müssen! Oder doch lieber…?
Darum jetzt mein letzter, gequälter Seufzer an alle kunstinteressierten Leserinnen und Leser: Gehen Sie doch lieber selbst in die Goya-Ausstellung im Voswinckelshof und suchen Sie sich IHR LIEBLINGSBILD aus – aber bitte nicht mitnehmen!.

Autor:

Günter Hucks aus Dinslaken

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