Griechenland: Die OXI-Niederlage und die Linke in Deutschland & Europa

Nicole Gohlke, Jahrgang 1975, Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE und Mitglied im bayerischen Landesvorstand der Partei. | Foto: Nicole Gohlke
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  • Nicole Gohlke, Jahrgang 1975, Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE und Mitglied im bayerischen Landesvorstand der Partei.
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Angesichts der Abstimmungen über das sogenannte dritte "Hilfspaket" für Griechenland haben sich Janine Wissler, Fraktionsvorsitzende der Linken im Landtag von Hessen und Vizevorsitzende der Linkspartei sowie Nicole Gohlke, Bundestagsabgeordnete der Linken und Mitglied im bayerischen Landesvorstand der Partei, mit einem Debattenbeitrag zu Griechenland und den Konsequenzen für Europa zu Wort gemeldet.

Der Beitrag erschien zuerst am 23. Juli 2015 in der Tageszeitung "neues deutschland", die in Berlin mit einer verkauften Auflage von über 30.000 Stück erscheint.

Die Grexit-Frage(n) stellen

Die Linksfraktion hat das neue Austeritätsprogramm für Griechenland am 17. Juli im Bundestag mit 53 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen abgelehnt und damit deutlich »OXI« gesagt zur Erpressung der griechischen Regierung durch Merkel, Schäuble und Gabriel. Dies mag nicht ungewöhnlich klingen, bedeutet aber – wenn wir ehrlich sind – eine Neubestimmung unserer Position, da noch im Februar der überwiegende Teil unserer Fraktion mit »Ja« und nur wenige mit Enthaltung oder mit »Nein« gestimmt haben.

Natürlich war die Abstimmung im Februar eine andere und die zur Entscheidung stehende Frage inhaltlich nicht mit der Schärfe der heute gegebenen Alternativen zu vergleichen. Insbesondere das Argument, man müsse der gerade ins Amt gekommene neue Links-Regierung in Griechenland zunächst einmal Zeit zum Handeln verschaffen, war ernst zu nehmen. Und doch zeichnete sich aus unserer Sicht bereits damals deutlich die erpresserische Taktik und die neoliberalen Vorgaben der europäischen Institutionen ab. DIE LINKE hat nun mit »OXI« gestimmt, weil die deutsche Bundesregierung den GriechInnen das schlimmste Kürzungspaket seit 2010 aufgezwungen hat. Leider haben Alexis Tsipras und die Mehrzahl der Abgeordneten von SYRIZA aus ihrer Sicht keinen Weg gefunden, dieser Erpressung zu entgehen.

Diese Niederlage ist ein Anlass zum Nachdenken, Fragen zu stellen und Manöverkritik zu üben. Denn die Unterwerfung der ersten genuinen Linksregierung innerhalb der Europäischen Union seit Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise unter die Knute der deutschen Regierung und der ihr folgenden anderen europäischen Regierungen ist letztlich auch unsere Niederlage und eine Niederlage der gesamten Europäischen Linken.

Für uns muss sie Anlass sein, die zentralen Prämissen der letzten Monate, also unser grundsätzliches »Ja« zur EU und zum Euro und das kategorische Nein zum Austritt aus dem Euro, und somit unsere politische Strategie als linke Partei zu überdenken. Gerade in der Europäischen Linkspartei stehen wir in der Verantwortung, diese Frage gemeinsam mit unseren GenossInnen in ganz Europa und vor allem in Griechenland zu diskutieren und sie in dieser schwierigen Situation nicht alleine zu lassen.

Was uns beim Nachdenken bestimmt nicht hilft, ist, jetzt den großen Verrat auszurufen und das Totenglöckchen über SYRIZA zu läuten. Dies ist das Geschäft unserer politischen Gegner, die den Aufbruch in Griechenland ersticken wollen. Genauso wenig helfen uns aber Korpsgeistreflexe oder falsche Loyalitätsdefinitionen weiter. Weder sollten wir jetzt alles ablehnen, noch alles unkritisch unterstützen, was die SYRIZA-Regierung versucht hat, um die massenhafte Verarmung der GriechInnen zu beenden. Auch ein naserümpfender Moralismus – wir als Deutsche und als »Externe« dürften uns keinerlei Meinung oder Kritik anmaßen – wird uns keinen politischen Erkenntnisgewinn bringen.

Wir schulden uns und unseren GenossInnen in Griechenland stattdessen eine gleichermaßen ehrliche wie solidarische Debatte über die strategischen Erfolge wie auch die Fehler der letzten Zeit, gerade wenn wir künftig weiter gemeinsam gegen Austerität in Europa streiten und uns auf die kommenden europäischen Kämpfe vorbereiten wollen. Wir sollten uns also trauen, die letzten Monate kritisch zu reflektieren, die Frage eines Austritts Griechenlands aus dem Euro als Alternative zu diskutieren und gemeinsam versuchen, die aktuelle Niederlage und die Bedeutung des »OXI« zu begreifen.

Was gab es überhaupt zu verhandeln?

Alexis Tsipras wurde seit seiner Amtsübernahme bei allen Verhandlungen von den übrigen Regierungschefs erpresst und hat schließlich kapituliert. Im Parlament hat er seine Niederlage offen und ehrlich eingestanden. Dieses Ende ist kein persönliches Scheitern von ihm oder gar einem individuellen Bestreben nach Machterhalt geschuldet. Aber es konnte (und musste vielleicht) so weit kommen, weil die zentralen Prämissen der politischen Strategie seitens der griechischen Regierung – nämlich die Notwendigkeit des Verbleibs im Euro bei gleichzeitiger Ablehnung der Austeritätspolitk – am Ende keinen anderen Ausweg zugelassen haben, als das Diktat von Merkel und Schäuble zu unterschreiben. Wir haben unsere GenossInnen in dieser Strategie unterstützt und gehofft, dass es doch irgendeinen Weg dazwischen geben könnte. Jetzt haben wir lernen müssen: Diesen Weg gab es nicht.

Der ehemalige Finanzminister Yanis Varoufakis hat inzwischen eine lesenswerte Schilderung der Verhandlungen veröffentlicht: Zu keinem Zeitpunkt wurde demnach auf die Vorschläge der griechischen Seite auch nur eingegangen, hätte dies ja eine ernsthafte Diskussion über Alternativen und die Möglichkeit von Zugeständnissen bedeutet. Faktisch wurde hinter den verschlossenen Türen in Brüssel also gar nicht ernsthaft verhandelt, sondern immer nur festgestellt, dass alle Zugeständnisse nicht ausreichend und meilenweit von dem entfernt seien, was die Eurogruppe aus Griechenland herauspressen will. Auf dem Gipfel der Verhandlungen wurde Varoufakis – als griechischer Finanzminister und offizieller Vertreter eines Mitgliedsstaates – vom Treffen der Eurogruppe ausgeschlossen und zur Türe gewiesen. Die vergebliche Suche nach einer Geschäftsordnung brachte dann ans Tageslicht: Es gibt die Eurogruppe formell gar nicht, und daher kann es auch keine einzuhaltenden Rechte der jeweiligen Teilnehmerländer geben. So zerschellten die vermeintlich fairen Spielregeln der EU an der faktischen Gewalt eines Europas unter deutscher Führung.

Wir müssen daher zur Kenntnis nehmen, dass die auf Verhandlung und diplomatischen Dialog fixierte Strategie der SYRIZA-Regierung rückblickend gescheitert ist. Es war auch mit den charismatischen Persönlichkeiten von Tsipras und Varoufakis, viel wissenschaftlicher Expertise und mit einer gewieften Verhandlungstaktik nicht möglich, realen Einfluss zu gewinnen oder die Kräfteverhältnisse zu verschieben.

Der Verzicht auf »unilaterale Aktionen«, hat keinen Zeitgewinn und keine Atempause gebracht. Bei den Verhandlungen innerhalb der Institutionen hat sich vielmehr gezeigt, dass wir uns als Linke dort auf denkbar ungünstigem Terrain bewegen, und es nicht klappt, der anderen Seite am Verhandlungstisch Zugeständnisse zugunsten einer Politik mit menschlichem Antlitz abzutrotzen. Es ging Merkel, Schäuble und Gabriel dabei nicht nur um Griechenland; man wollte ein Exempel statuieren als Zeichen an andere europäische Länder.

Die Botschaft der Niederlage ist: Auch wenn zahlreiche Generalstreiks geführt werden, eine neue Regierung gewählt wird und die Mehrheit der Bevölkerung in einem Referendum »OXI« sagt: All das wird nicht helfen und nicht dazu führen, dass sich die Politik ändert. Das ist die Botschaft, die die gesamte europäische Linke demoralisieren und soziale Proteste abwürgen soll, weil die Hoffnung auf demokratische Veränderungen erstickt wird. Dieser Demoralisierung und Enttäuschung kann nur begegnet werden, indem die europäische Linke eine offene und selbstkritische Debatte über die Lehren aus der aktuellen Niederlage führt.

Den Grexit von links denken?

Am Ende wurde von Schäuble – offenbar mit Wissen von Sigmar Gabriel – offen mit dem Zwangs-Grexit von rechts gedroht. Grexit von rechts bedeutet: Griechenland tritt praktisch ohne Vorbereitung aus dem Euro aus, die Bedingungen für die Hilfen zur Währungsumstellung, die Stabilisierung des Wechselkurses und die Restrukturierung der Schulden müssten wiederum mit der EU ausgehandelt werden. Ob sie und mit ihnen die konservativen Kapitalfraktionen Europas tatsächlich einen von ihnen verordneten Ausschluss aus dem Euro ernsthaft ins Auge gefasst haben, oder ob sie mit diesem Szenario im Wissen um die strategische Alternativlosigkeit von SYRIZA nur den politischen Preis weiter in die Höhe treiben wollten, ist im Nachhinein schwer zu sagen. Letztlich hat es aber die Linke in Europa versäumt, ernsthafte Überlegungen für einen Plan B zu entwickeln. In den Verhandlungen mit den Gläubigern hat sich die Linksregierung damit jeglicher Alternativen beraubt. Durch den Verzicht auf einen Plan B blieb am Ende nur eine einzige Option: Um jeden Preis im Euro zu bleiben. Entsprechend konnten die Institutionen den Preis fast beliebig in die Höhe treiben und die Regierung musste am Ende allem zustimmen, weil sonst nur der Bruch blieb, der unbedingt vermieden werden sollte.

Wie könnte unser Plan B aber überhaupt gedacht werden? Uns scheint dies ein sehr schwieriges Unterfangen zu sein, das bislang mehr Fragen als Antworten aufwirft. Trotz vieler lesenswerter Beiträge, gerade aus der griechischen Linken, liegt noch kein detailliertes Szenario vor. Seine Attraktivität bezieht der linke Grexit aber vor allem aus der Alternative zu ihm: Ein Verbleib in der Eurozone bedeutet für Griechenland die Garantie auf weitere Kürzungen und Verelendung, die faktische Aufgabe demokratischer und parlamentarischer Kompetenzen und stellt SYRIZA vor eine Zerreißprobe. Er zwingt die SYRIZA-Regierung nun – zumindest vorläufig – dazu, statt zur Beenderin der Austeritätspolitik zum ausführenden Organ der Diktatur der Troika zu werden.

Ein selbstbestimmter Grexit von links ist sicherlich keine einfache Lösung. Gerade die ökonomischen Folgen sind unter linken Ökonomen und WissenschaftlerInnen sehr umstritten und erscheinen derzeit kaum absehbar. Zumindest kurzfristig könnte der Grexit mit schweren sozialen Verwerfungen, ökonomischen Abstürzen und weiterer Verelendung verbunden sein. Immerhin könnte aber auch – und wir meinen, diese Optionen sind es zumindest wert, einmal ernsthaft gedacht zu werden – ein neuer politischer Handlungsspielraum entstehen: mit einer selbst gesteuerten Kreditvergabe, eigenen Maßnahmen gegen Kapitalflucht und zur Besteuerung der Reichen ohne Mitsprache durch die Troika. Ein solcher Schritt bedeutet für die politisch Verantwortlichen natürlich ein schwer kalkulierbares Risiko. Die Sorge, dies politisch verantworten zu müssen, würde einen Aufbruch ins Ungewisse von Anfang an begleiten.

Unsere griechischen GenossInnen haben trotzdem den Mut zum Risiko im Denken bewiesen. Beispielsweise hat Yanis Varoufakis im Moment der Zuspitzung unmittelbar vor dem Referendum im Kabinett einen Dreischritt aus unilateralen Gegenmaßnahmen vorgeschlagen, um auf die Bankenschließung in Griechenland durch die EZB zu reagieren. Seine Überlegungen können durchaus als Einstieg in einen selbstbestimmten Austritt aus dem Euro gesehen werden. Varoufakis schlug vor 1) eigene Schuldscheine auszugeben oder zu verkünden, eine eigene (noch an den Euro gebundene) Währung einzuführen, 2) einen Schuldenschnitt an den griechischen Anleihen vorzunehmen, die seit 2012 von der EZB gehalten werden und 3) die Kontrolle der griechischen Zentralbank zu übernehmen.

Wollen die GriechInnen einen Plan B?

Neben den ökonomischen Einwänden gegen den Grexit von links gibt es in der linken Debatte aber oft auch einen politischen Vorbehalt: Die Mehrheit der GriechInnen sei für einen Verbleib im Euro und die GenossInnen von SYRIZA könnten einen linken Grexit nur gegen die Mehrheit der Menschen durchsetzen. Aber stimmt das wirklich, oder muss man dies nicht als eine widersprüchliche Dynamik einer polarisierten Klassenauseinandersetzung begreifen? Zwar ist es richtig, dass bei Umfragen nach einem Verbleib im Euro losgelöst von den damit real verbundenen Kürzungsprogrammen die Mehrheit der GriechInnen »Ja« zum Euro sagt. Was aber, wenn man bei der Frage genau diesen zentralen Zusammenhang herstellt?

Die Präferenz für die gefühlt zunächst einfachere Lösung, also für den Euro, bei dem gleichzeitigen Wunsch nach einem Ende der Austeritätspolitik, muss nicht unvereinbar sein mit einer Bereitschaft, im Zweifel auch die Folgen eines Austritts aus dem Euro in Kauf zu nehmen. Nämlich insbesondere dann, wenn der Bruch mit der Austerität innerhalb der Eurozone einfach nicht gelingen mag. Dies haben die 61 Prozent der GriechInnen mit ihrem »OXI« beim Referendum am 5. Juli eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Auch wenn Alexis Tsipras betont hat, das Referendum sei nicht unmittelbar eine Abstimmung um die Frage der Währung gewesen: Für die meisten GriechInnen war es eine klare Wahl zwischen dem Verbleib im Euro bei fortgesetzter Austerität einerseits, und einer unmissverständlichen Ablehnung des Angebotes der »Institutionen« – die Gefahr eines Grexits in Kauf nehmend – andererseits. Die Medien in Griechenland haben genau dieses Bild vermittelt und das Referendum zu eben dieser Frage hochstilisiert. Panikmeldungen bei geschlossenen Banken, Bilder langer Schlangen vor (fast) leeren Geldautomaten, das Erlahmen des öffentlichen Lebens – die Kulisse des drohenden Weltuntergangs bei einem Grexit wurde im Vorfeld der Abstimmung in Griechenland für jeden sichtbar und von der Eurogruppe als Drohung aufgezeigt.

Die Botschaft, dass das »OXI« beim Referendum dennoch mit 61 Prozent klar gewonnen hat, wird noch dadurch verstärkt, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialer Stellung und Abstimmungsverhalten gab: Die finanziell Schwachen und Abgehängten haben mit sehr großer Mehrheit gegen das Abkommen gestimmt. Daher lässt gerade die Volksabstimmung in Griechenland darauf schließen, dass der unbedingte Verbleib im Euro keineswegs ein Ziel der Mehrheit der Bevölkerung ist, sondern vor allem ein Projekt der herrschenden und besitzenden Klassen.

Um Mehrheiten ringen

Das Referendum hat auch gezeigt, wie das mutige Handeln unserer GenossInnen und die Initiative für das Referendum plötzlich zu einer enormen Re-Politisierung der Gesellschaft und einer Wiederbelebung sozialer Bewegungen führen kann. Viele haben das gespürt und eine Gänsehaut gehabt, als Gregor Gysi und die SprecherInnen von Blockupy auf der Abschlusskundgebung auf dem Syntagma-Platz vor Zehntausenden gesprochen haben. Die Mobilisierung zum Referendum und das deutliche »OXI« haben das enorme Bedürfnis nach Alternativen und einem Plan B aufgezeigt.

Unsere GenossInnen in der Regierung hatten die Möglichkeit, fünf Monate lang um die gesellschaftlichen Mehrheiten für einen solchen Plan B zu kämpfen. Fünf Monate lang hätten wir den GriechInnen demonstrieren können, dass wir alles versuchen, um unser Wahlversprechen nach einem Ende der Austerität umzusetzen und gleichzeitig einen Verbleib im Euro sicher zu stellen. Den Plan B mitzudenken, bedeutet aber auch, dass es rote Linien geben würde, zu deren Überschreitung wir immer wieder »OXI« sagen. Und dass, falls ein Ende der Austerität innerhalb des Euros letztlich nicht machbar ist, es den konkreten Plan B und damit eine reale und greifbare Alternative zur Kapitulation geben würde.

Gleichzeitig hätten – vielleicht im Sinne der Vorschläge von Yanis Varoufakis – ernsthafte Vorkehrungen auf den Ernstfall getroffen werden müssen, also Vorbereitungen zur Ausgabe von Schuldscheinen, zur Schaffung einer eigenen Währung, zur Verstaatlichung der Banken und zur Einführung von Kapitalverkehrskontrollen. Ob unsere GenossInnen von SYRIZA mit einer solchen Strategie tatsächlich eine Mehrheit für einen selbstbestimmten Austritt aus dem Euro im Falle des endgültigen Scheiterns der Verhandlungen gefunden hätten, ist natürlich schwer zu sagen. Der Verzicht auf jede strategische Alternative zu einem unbedingten Verbleib im Euro-Raum schwächte aber nicht nur unsere Verhandlungsposition, er wirkte auch desorientierend auf die Menschen innerhalb und außerhalb Griechenlands, die voller Hoffnung auf die neue Regierung blickten.

Die Verantwortung für den Fehler, keinen Plan B vorbereitet und um gesellschaftliche Mehrheiten hierfür gerungen zu haben, trifft aber nicht SYRIZA alleine – sie trifft die gesamte Europäische Linke genauso. Wir alle müssen kritisch reflektieren, dass wir uns dem letzten Mittel, nämlich dem Bruch mit den Institutionen und der Euro-Zone bislang nicht gestellt und uns dem Szenario eines selbstbestimmten Grexits von links – und sei es nur als Denkfigur – verweigert haben. Wir haben somit weder Grund noch Berechtigung, gegenüber unseren griechischen GenossInnen besserwisserisch zu sein. Denn niemand kann behaupten, dass wir uns geschickter oder gar klüger verhalten hätten. Wahrscheinlich sind in der deutschen Linken die Illusionen über die Spielräume innerhalb der EU sogar noch weiter verbreitet. Diese wurden beispielsweise im jüngsten Europawahlkampf immer wieder genährt, und es wurde teilweise behauptet, es könne eigentlich gar keine grundsätzliche EU-Kritik von links geben. Darüber sollten wir uns ein gründliches Grübeln und die Fähigkeit zur Selbstkritik zumuten. Denn nach unserer gemeinsamen Niederlage steht zu befürchten, dass linke Politik in Europa künftig nur noch gegen die EU-Institutionen und – als sozialistische Regierungspolitik in der Peripherie Europas – wohl nur noch außerhalb des Korsetts der Eurogruppe möglich ist.

You can’t be pro-EU and anti-austerity

Welche Fragen müssen wir uns daher in der EU-Debatte neu stellen? DIE LINKE in Deutschland hat auch deswegen oft Schwierigkeiten, die EU als imperiales Projekt zu kritisieren, weil diese als eine historische Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg dargestellt wird. Nach den Weltkriegen hätten sich die verfeindeten Großmächte demnach zu einem Bündnis zusammengeschlossen, das künftige militärische Konflikte unmöglich mache. Philosophen wie Jürgen Habermas haben die EU in diesem Sinne als post-nationales Konstrukt und als Alternative zur Rückkehr zum Nationalstaat gepriesen. Doch auch wenn sich durch die EU die Beziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten stark verändert haben, hat sich die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen den Staaten dadurch eben nicht vermindert, vor einer Woche bei den »Verhandlungen« zum Griechenland-Paket sind sie für jeden offensichtlich und unverbrämt zu Tage getreten.

Dass die EU den Euro und eine gemeinsame Geldpolitik, nicht aber eine gemeinsame Lohn-, Sozial- und Haushaltspolitik eingeführt hat, ist kein Versehen, kein Unfall und auch keine vorübergehende Erscheinung einer unfertigen EU. Das Konstrukt des Euro und die aggressive Exportstrategie Deutschlands schaden den wirtschaftlich schwächeren Ländern wie Griechenland, zumal es keine abgestimmte gemeinsame Wirtschaftspolitik gibt. Statt die Macht der deutschen Politik und Wirtschaft einzudämmen, verleiht die EU ihr lediglich einen post-nationalen Anstrich.

Jetzt ist klar geworden, dass in Europa künftig »deutsch« gesprochen wird, wie Volker Kauder sich vor einiger Zeit freute. Wir müssen daher prüfen, inwieweit ein EU-weiter gleichzeitiger »Neustart« des Projekts eine nützliche Forderung für Klassenkämpfe in Europa ist. Die Folgen der EU-Politik sind in Deutschland oder Griechenland, Großbritannien oder Portugal derzeit sehr unterschiedlich. Eine von den Regierungen betriebene soziale Umgestaltung der EU würde einen gleichzeitigen Politikwechsel in fast allen 28 Mitgliedsstaaten erfordern, und auch dann würden die großen Konzerne und die Finanzmärkte eine mächtige Kraft gegen jede soziale Reform darstellen.

Wir glauben nicht, dass konkrete Solidarität zwischen den Menschen in Europa durch den positiven Bezug auf ein EU-Projekt möglich ist, das von nationalen Regierungen als gemeinsamer Wirtschafts- und Währungsraum erdacht und umgesetzt wird. Vielversprechender erscheinen uns die (noch zu wenig gemeinsamen) Kämpfe in Europa gegen die Politik der Austerität und für bessere Lebensbedingungen. Dabei geht es überall auch um den konkreten Kampf gegen alte und neue Formen des Faschismus und Rassismus, gegen Pegida in Deutschland, den Front National in Frankreich oder die Goldene Morgenröte in Griechenland.

Es ist an der Zeit, dass wir die EU-Politik zum Gegenstand der real existierenden sozialen Kämpfe in den verschiedenen Mitgliedsstaaten machen, statt abstrakt von einer »sozialen EU« zu sprechen, für die es in absehbarer Zeit keine Bewegung geben wird. Unsere Politik muss dazu beitragen, gesamteuropäische Netzwerke und Solidarität zwischen den politischen AkteurInnen und den politischen AktivistInnen in europäischen, nationalen, regionalen oder kommunalen Bewegungen zu schaffen, zu erhalten und zu vertiefen. Nach der Unterwerfung Griechenlands unter das Diktat der Institutionen ist es unwahrscheinlich und unangemessen zu erwarten, dass sich die GenossInnen in der Europäischen Linken weiterhin positiv auf den Euro oder die EU beziehen, denn die Mitgliedschaft in der Eurozone hat sich als Erpressungsinstrument für die Durchsetzung von Austeritätspolitik entpuppt.

Unsere Hausaufgaben machen

Es macht in der Rückschau wenig Sinn, die Hindernisse für einen anderen Ausgang der griechischen Tragödie primär oder gar alleine in Griechenland zu suchen. Die Ursachen für das (vorläufige) Scheitern von SYRIZA liegen vor allem im Fehlen relevanter linker Bewegungen im Rest von Europa und natürlich an der historischen Schwäche der Linken in Deutschland. Wir meinen, neue und stärkere Bemühungen sind notwendig, um mit der LINKEN einen gesellschaftlichen Aufbruch zu erreichen, der auch in Deutschland zu Massenmobilisierungen führen kann. Wir sind bislang eine 10 Prozent-Partei und mobilisieren bei Blockupy 20.000 Menschen. In den Gewerkschaften sind wir noch zu wenig verankert, demonstrieren im Herbst aber immerhin gemeinsam gegen TTIP. Das ist wichtig, aber noch viel zu wenig, wenn wir die Parole vom Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes in den nächsten Jahren mit Leben füllen wollen. Wir müssen daher unsere Hausaufgaben machen und versuchen, auch hier ein »OXI« zu neoliberaler und Kürzungspolitik auf die Beine zu stellen, das den Namen verdient.

Eine Lehre aus der Niederlage ist, die Prämissen unserer eigenen Politik zu überdenken und den Bruch zu wagen. Den Bruch mit einer EU, die Nationalismus, Abschottung und imperialistische Konflikte stärkt und nicht überwindet, den Bruch mit einer rein parlamentarischen Politik, die Parteien auf Wahlvereine und Parlamente auf die Durchsetzung der Interessen von Lobbygruppen reduziert. Wenn wir die deutsche Bundesregierung unter Druck setzen, ist das die wichtigste Solidarität, die wir den Menschen in Griechenland anbieten können.

http://www.neues-deutschland.de/artikel/978846.die-grexit-frage-n-stellen.html

Autor:

Carsten Klink aus Dortmund-Ost

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