Fortsetzungsgeschichte: "Im Jahr des Herrn" (Zeitinsel-Saga) - Kapitel 8

8. Atlantis …

Kapitän Hansen hatte eine neuzeitliche Karte des Mittelmeerraums vor ihnen ausgebreitet. Er zog mit dem Finger eine Linie von der spanischen Stadt Cartagena bis nach Ashdod, dem israelischen Hafen in der Nähe von Jerusalem und erklärte: »Bis nach Judäa sind es ungefähr 2270 Seemeilen, also rd. 4.200 Kilometer. Da wir wegen der Herbst- und Winterstürme nicht den direkten Weg über das offene Meer nehmen können, müssen wir nahe der nordafrikanischen Küste entlang fahren. Dadurch verlängert sich unser Weg um mindestens 500 Seemeilen. Bei einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von 5 Knoten wären wir vier bis sechs Wochen unterwegs, ohne Pausen. Um rechtzeitig im Heiligen Land anzukommen, müssen wir spätestens im Oktober aufbrechen. Jetzt haben wir März und somit noch eine Menge Zeit für
Carthago Nova und die Silberminen im Hinterland.«
»Aber auch genug Zeit, vorher noch einen Abstecher an die Küste von Marokko zu machen, wo diese seltsame Halbinsel eingezeichnet ist«, sagte Knut Haberling. Der Kapitän schüttelte den Kopf und zeigte auf seine Karte: »Aber da ist nichts! Schaut mal her. Hier ist Rabat und die Halbinsel müsste direkt davor liegen. Aber da ist nichts. Nichtmal eine Sandbank oder ein unterseeischer Berg.«
»Deine Karte ist aus dem Jahr 2009«, antwortete Knut. »Was ist, wenn Atlantis in 2.000 Jahren längst wieder verschwunden ist?«
»Wie soll das gehen?« fragte der Kapitän. »Irgendwas bleibt immer übrig. Das beweisen die archäologischen Ausgrabungen der Neuzeit.«
»Dann sollten wir nachsehen gehen. Du sagtest selbst, dass wir genug Zeit haben. Und Cartagena läuft uns ja nicht weg«, schlug Urs Müller vor. »Und wenn doch …«, sagte Knut Haberling leise, aber so leise, dass ihn keiner seiner Mitreisenden verstehen konnte.

Ein paar Gläser Rotwein später hatten sich geeinigt: Zunächst würde es an die marokkanische Küste gehen und anschließend erst nach Carthago Nova, dem späteren Cartagena. Von dort aus würde man dann gemeinsam im frühen Herbst mit dem ZENTAUER aufbrechen und das Heiligen Land ansteuern. Und auch die letzte offene Frage hatte eine Antwort erhalten: Nur Lechti und Hilmar sowie die Ärztin Hanna würden nach Jerusalem fahren; alle anderen würden an Bord des Schiffes bleiben.

*

Man schrieb den 5. März, als sich der ZENTAUER langsam aus seiner Höhle bei Gibraltar schob, das Segel aufzog und sich auf den Weg an die marokkanische Küste machte, Der Kapitän hatte für die Hin- und Rückfahrt insgesamt 3 Wochen veranschlagt, wobei er für den Hinweg Richtung Atlantik RUDIS Hilfe einplante. Die Dampfmaschine sollte allerdings nur nachts zum Einsatz kommen und auch nur dann, wenn keine anderen Schiffe in der Nähe waren.

Ihr Ziel erreichten sie ohne Zwischenfälle nach sieben Tagen nahezu ereignisloser Fahrt – wenn man von der heimlichen Begeisterung einmal absieht, die die Bikinis der beiden sonnenbadenden Schwestern in männlichen Kreisen an Bord auslösten. Auch der aufkommende Frühling schien den einen oder anderen guten Gedanken auszulösen und die Stimmung an Bord steigerte sich mit jedem Tag ihrer Fahrt.
Die gute Laune verflog erst, als man die Stelle erreichte, an der man den geheimnisvollen Ort finden wollte, der auf der Zeichnung in der Höhle von Gibraltar zu sehen gewesen war, aber da war nichts! Nur eine trostlose Halbwüste, die sich von den fernen Bergen herunterstreckte und ins Meer mündete.
»Sach ich doch«, fluchte Kapitän Hansen und überprüfte seine Seekarten erneut. Dann fuhr er mit dem ZENTAUER einige Seemeilen die Küste hoch und wieder runter, machte viele Echolot-Messungen, ließ das Radar nicht aus den Augen …; nichts! Hier gab es keine unterseeischen Berge und keine Vulkanschlote. Hier gab es nichts und es sah so aus, als wenn hier nie etwas gewesen wäre. Eine tiefe Enttäuschung machte sich breit.

»Von mir aus können wir heute schon zurückfahren«, sagte Knut Haberling enttäuscht, dessen blasse Gesichtsfarbe mittlerweile einer leichten Bräune gewichen war. Er stand auf, musterte den wohlproportionierten Körper der blondhaarigen Jenny Schreiber, die neben ihm auf dem Bauch lag und sagte: »Ich hol mir etwas zu trinken. Willst Du auch etwas?«
»Gerne, einmal Tequilla Sunrise mit viel Grenadine«, lachte Jenny, »geschüttelt, nicht gerührt.«
»Sehr wohl, Mrs. Bond«, grinste Knut und ging an die Steuerbordwand. Er griff sich Gläser und zapfte zwei Portionen gekühltes Trinkwasser aus dem dort aufgestellten Wasserfass. Mit gespielter Entrüstung reichte er Jenny ein Glas: »Der Service an Bord dieses Kreuzfahrtschiffes lässt doch sehr zu wünschen übrig. Grenadine-Sirup ist tatsächlich aus.«
»That´s horrible, darling!« Jenny spielte das Spiel mit, drehte sich auf den Rücken und erhob sich. Sie nahm das Glas und trank einen kleinen Schluck. Dabei sah sie zufällig in Richtung der Berge. War da nicht …? Sie stand auf und holte sich eines der Ferngläser. Tatsächlich!
»Wir bekommen Besuch!« sagte sie laut und zeigte in Richtung der Berge. »Eine Karawane. Vielleicht haben sie was zum Tauschen. Grenadine-Sirup wäre zum Beispiel nicht schlecht.«
»Keine Karawane oder nur eine sehr kleine«, sagte der Kapitän, der jetzt ebenfalls durch ein Fernglas schaute. »Ich erkenne nur acht Kamele und vier, nein fünf Personen. Eine Person scheint auf einem Kamel festgebunden zu sein. Drei von den Kamelen sind wohl Lasttiere; sie tragen Wasserbeutel. Ich schlage vor, wie gehen an Land und reden mit ihnen.«

Der Kapitän, Urs Müller, Knut Haberling und die beiden Frauen fuhren mit dem Schlauchboot an Land, während die drei anderen Männer die Szene von Bord des Schiffes aus beobachteten. Lechti und Franz hatten vorsichtshalber ihre Gewehre bereitgelegt; nur für den Fall, dass den Freunden von den Fremden Gefahr drohen würde.

Der Mann auf dem vorderen Kamel stoppte sein Tier ungefähr zwei Meter vor Hilmar Hansen, der seine rechte Hand zum Gruß erhoben hatte. Der Reiter sagte etwas in einer fremden Sprache, worauf Hilmar auf Latein antwortete: »Ich grüße Dich ebenfalls.«
Wieder sagte der Reiter etwas, aber diesmal antworte Jenny Schreiber in der Sprache des Reiters: »Wir grüßen Euch!«. Zu ihren eigenen Leuten gewandt, sagte sie: »Es ist eine sehr alte Form des Arabischen, aber ich glaube, ich komme damit klar.«
»Wat unsere Deern nicht alles kann«, murmelte der Kapitän und trat einen Schritt zurück. Für alle war das ein sichtbares Zeichen, dass nicht er, sondern Jenny das Gespräch führen sollte.

»Was sucht Ihr in dieser trostlosen Gegend, Reiter?«
»Wir suchen den Ort der Heilung«, antwortete der Mann. »Einer Legende zufolge gab es hier früher einen Ort, wo man Kranke gesund machte. Mein Sohn ist krank. Er …, scheißt sich die Seele aus dem Leib und wird bald sterben. Dieser Ort war meine letzte Hoffnung, aber leider scheint es den Ort der Heilung nicht mehr zu geben.«
»Darf ich mir Deinen Sohn einmal ansehen?« fragte Hanna mit Blick auf den Mann, der auf dem Rücken des zweiten Kamels gebunden war und leise vor sich hin jammerte. »Ich bin Ärztin. Vielleicht kann ich helfen.«
Jenny übersetzte die Worte ihrer Schwester und der Reiter nickte stumm. Hanna trat an das Kamel des Kranken. Sie untersuchte den etwa 18 Jahre alten Mann oberflächlich und kehrte dann zu dem ersten Reiter zurück. Wieder übersetzte Jenny: »Auch wir waren auf der Suche nach diesem Ort der Legenden, aber meine Schwester sagt, es benötige keine Legende, um Deinen Sohn wieder gesund zu machen. Wir kennen diese Krankheit. Sie kommt vom verschmutzten Wasser und wir nennen sie „Ruhr“. Gib Deinem Sohn viel frisches Wasser und außerdem das hier.« Hanna reichte ihm eine Tüte mit einem weißen Pulver. Wieder übersetzte Jenny: »Löse dieses Pulver in frischem Wasser auf oder in Wasser, das Ihr vorher abgekocht habt und lass Deinem Sohn davon trinken. In einigen Tagen wird er wieder ganz gesund sein. Und noch ein Tipp: Trinkt in Zukunft nur noch frisches oder abgekochtes Wasser, dann wird Euch diese schlimme Krankheit dauerhaft verschonen.«
»Ich danke Euch, Frauen«, sagte der Mann und wollte sein Kamel gerade wenden, als Jenny ihm in den Zügel griff: »Wie gesagt, auch wir waren auf der Suche nach diesem Ort der Legenden, haben unsere Hinweise jedoch in einem Land im Norden gefunden. Ihr aber kommt aus dem Süden: Woher wusstet ihr von der Legende?«
»Es gibt das hier, überall im Land.« Er zog eine Papyrusrolle aus der Satteltasche und reichte sie ihr. Jenny rollte den Papyrus auf und zog überrascht die Luft ein, als sie begriff, was sie da in der Hand hielt. Die Karte war ein wertvolles Kunstwerk und ein Wegweiser zugleich. Sie zeigte in der rechten Hälfte verschiedene Routen durch das Land und links, am Meer, die detaillierte Zeichnung einer recht modern wirkenden Stadt ...
»Du kannst die Karte behalten, Frau. Ich benötige sie nicht mehr. Und wenn mein Sohn wirklich gesund wird, dann ist sie nur ein sehr bescheidenes Zeichen meines großen Dankes an Dich, Fremde! Assalaam aleikum.«
»Salaam alaikum«, antwortete Jenny nach kurzem Zögern und hob zum Abschied noch einmal die Hand. Auch Kapitän Hansen, Urs Müller und Hanna Schreiber erhoben ihre Hände zum Zeichen des Abschieds.

*

»Das hier …«, begann Knut Haberling, nachdem sie sich alle am Abend des Tages am großen Tisch auf Deck getroffen hatten und die ausgebreitete Karte betrachteten, »das hier ist nach meiner kurzen Untersuchung überhaupt kein Papyrus, sondern das ist echtes Papier. Papier, das erst in etwa 100 Jahren in China erfunden werden wird oder in etwa 700 Jahren im arabischen Raum. In Europa wird Papier erst im 12. Jahrhundert bekannt. Aber die Sache wird noch viel sensationeller! Die Zeichnung auf diesem Papier zeigt eine Insel, die über eine Brücke mit dem Festland verbundnen ist. Auf dieser Insel liegt eine Stadt. und diese Stadt entspricht in wesentlichen Teilen der Erwähnung und Beschreibung des griechischen Philosophen Platon. Diese Stadt hier«, Knut zeigte auf die Zeichnung, »dürfte Atlantis sein ...«

Atlantis …; der legendäre Traum des griechischen Philosophen Platon. Ein Zentrum der Macht, aber auch der Kultur und Medizin. Seiner Zeit ungeheuer weit voraus …

Es dauerte eine Weile bis sich dieser Gedanke bei allen Reisenden gesetzt hatte, aber dann kochte die Diskussion hoch; eine Spekulation jagte die Nächste und erst als Kapitän Hansen eingriff, wurde es wieder ruhiger: »Moment mal, Freunde. Diese Stadt hat am Meer gelegen - halb ins Wasser hinein gebaut und sie soll, will man der Zeichnung glauben, auf einem mächtigen Felsen gestanden haben. Und das führt mich nun zu meiner Frage: Städte können abbrennen, von Erdbeben zerstört werden oder zerfallen - Felsen jedoch nicht. Meine Frage lautet also: Wo ist der Felsen geblieben? Wir sind die ganze Küste auf und ab gefahren, haben Echolotmessungen gemacht und nichts gefunden. Keinen Felsen und keine Trümmer.«
»Vielleicht sind wir hier falsch …«, begann Knut Haberling, doch der Kapitän unterbrach ihn sofort: »Definitiv nicht! Ich habe die Stelle der Höhlenzeichnung auf meine Seekarte übertragen. Auch die Küstenlinie auf der neuen Zeichnung zeigt, dass wir hier an der richtigen Stelle sind. Aber hier ist kein Felsen und hier ist auch nie ein Felsen gewesen ...«
»Und trotzdem kann die Geschichte stimmen«, fuhr Knut Haberling dazwischen. »Wir kennen doch selbst eine Stadt, die aus irgendwelchen Gründen in die Vergangenheit verschlagen wurde. Duisburg befindet sich heute, also im Jahr des Herrn 32, mitten in dem Germanien der Römerzeit und wenn jemand im Jahre 2012 die Ruhrmündung besucht, was meint Ihr, wird er dort finden? Reste unserer Stadt bestimmt nicht, denn alles was wir kennen, ist mit uns in die Vergangenheit gereist: Die Menschen, die Gebäude, die unterirdischen Anlagen, die Erde, alles! Und das führt mich jetzt zu folgender Hypothese:
Vielleicht ist seinerzeit eine Stadt - nehmen wir mal an aus dem späten Mittelalter - ebenfalls in die Vergangenheit verschlagen worden und ist dort zum Ort der Heilung geworden und zum Zentrum von Macht, Bildung und Wissenschaft. Kurzum zur Legende Atlantis. Eine Stadt, in der alles viel weiter entwickelt war, als zur Zeit Platons. Vergleichbar mit uns, die wir ja auch mitsamt unserer hoch entwickelten Technik in dem Germanien der Antike gelandet sind.
Und wenn das so sein sollte, dann gibt mir das hier …«, der Pressemann machte eine ausladende Geste, die das Meer und die marokkanische Küste mit einbezog, »dann gibt mir das Beispiel Atlantis die Hoffnung, dass unsere Heimat auch wieder in ihre eigene Zeit zurückkehren wird. Irgendwann …«

(Fortsetzung folgt)

Autor:

Uwe Kirchberg aus Duisburg

following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

Folgen Sie diesem Profil als Erste/r

1 Kommentar

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.