Ruhrtriennale 2015 # Duisburg: Trilogie meiner Familie, Teil 1: Lohn und Brot

Liebe. Trilogie meiner Familie 1.                      Begeisterte Zuschauer danken mit langanhaltendem Applaus.
  • Liebe. Trilogie meiner Familie 1. Begeisterte Zuschauer danken mit langanhaltendem Applaus.
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Was tut man nicht alles, um täglich etwas zu essen zu haben - und eigentlich kreist doch alles um die Liebe.

Johan Simons suchte für die Ruhrtriennale ein Thema, in dem sich jeder wiederfindet, etwas aus der Industriezeit für Spielorte in alten Industriegebäuden im Ruhrgebiet und etwas, das ihn selbst einbindet.
Simons Opa hat als 14-jähriger in Belgien im Bergbau gearbeitet.
Eine Familienchronik und deren Erinnerungsbilder hat jeder, bei manchem hat sie sich bis in die Zeit der Jahrhundertwende tradiert.
Und das Thema "Industrialisierung" hat es auch in der Literatur immer wieder gegeben.
In Émile Zolas 20-bändigem Romanzyklus "Die Rougon-Macquart" fand Simon genug Stoff für seine Trilogie. Jedes Jahr seiner Spielzeit ist ein Schauspiel-Stück zu erwarten, das darlegt, welche Auswirkungen die Chancen der neuen Industriezeit auf die Einzelschicksale einer Familie hatten - sozialer Aufstieg oder persönlicher Untergang.
Émile Zola, 1840 in Paris geboren, beschrieb, naturalistisch und ohne zu moralisieren, ein Sittengemälde seiner Zeit, in dem auch Autobiografisches zu finden ist.

Kann man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, ist es familien-genetisch vorbestimmt, unausweichlich? Geht der persönliche Untergang mit dem Untergang der historischen Epoche - der ausbeuterischen Industrialisierung - einher oder sorgt die moderne Technik für Arbeit, Lohn und Brot?

In der Bearbeitung von Luk Perceval, der auch Regie führt, wird die Romanliteratur in drei Themenbereiche gegliedert. Der diesjährig uraufgeführte 1. Teil "Liebe" geht auf das erste und das letzte Buch des Zyklus zurück. Geschickt wird der Stoff für die Bühne bearbeitet, es gibt Dialoge und Erzählpassagen unterschiedlicher Schauspieler-Figuren. Das Bühnenbild besteht hauptsächlich aus einer in eine große Welle aufgeworfene Bretterlandschaft, die sowohl Zimmer als auch Arbeitsplatz eines Dachdeckers sein kann. Sie könnte auch das wellenförmige Auf-und-Ab des Lebens symbolisieren.
Die Schauspieler liefern sportlich-artistische Performances ab, indem sie den Bühnenraum für ihr Spiel erobern und brechen bisweilen den teilweise beklemmenden Inhalt slapstikhaft auf.

Ausgehend von einer "Urmutter" gibt es den braven ehelichen Familienzweig und, da sie nach dem Tod ihres Mannes ein Liebesverhältnis mit einem Kriminellen begann und selbst auch alkoholkrank wurde, auch einen verdorbenen, kranken Familienzweig.
Die Figuren der Familie sind in unterschiedlichsten Liebesverhältnissen verstrickt - zärtlich, dominant, ausbeuterisch, inzestös, selbstzerstörerisch und qualvoll sehnend. Bei allem wollen sie eine soziale Absicherung, ein bischen Glück im Leben.
Die Familienmitglieder mühen sich ab, ihr jeweiliges Leben in den Griff zu bekommen, kämpfen ums Überleben oder den sozialen Aufstieg, werden aber von Schicksalsschlägen wie Arbeitsunfällen, Krankheiten und Elendserscheinungen immer wieder zurückgeworfen.
Alles wird medizinisch genau dokumentiert von dem Enkel der Urmutter, einem beobachtenden Arzt, der aber selbst auch mehr und mehr in einer Art Familienwahn verstrickt ist.

In Zolas Frankreich sind die Theorien der "Entartung" und "Degeneration" infolge von Alkohol und Umwelteinflüssen der technischen und urbanen Moderne neu aufgekommen.
Die quasi-wissenschaftliche Studie des "Arztes" orientiert sich an den Modellen von moderner Biologie, Medizin und Genetik. Sie steht im Widerstreit mit der Kirchenlehre, wonach hinter allem eine höhere Macht steht, die das Schicksal bestimmt und nicht erforschbar ist.

Ist die Idee eines schmerzlosen Lebens nur eine Illusion, aus der man sich befreien muss, indem man den Schmerz akzeptiert? Muss man lernen für das dankbar zu sein, was man im Leben bekommen hat?

In der überzeugenden Bearbeitung ist Zolas Stoff immer noch geeignet, den Betrachter nachdenklich zu machen, wie sein eigenes Leben im Verlauf der jeweiligen Familienchronik zu bewerten ist.
Vielleicht sollten wir mehr stolz auf das sein, was unsere Vorfahren in der frühen Industrialisierungszeit persönlich geleistet haben und darauf, wie unser soziales Fundament in 150 Jahren gelegt wurde und hieraus eine zumindest bewahrende Verantwortung ableiten.

Weitere Termine für die sehenswerte Aufführung sind am 11., 12. und 13. September 2015, jeweils 19 Uhr in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg.

Autor:

Dorothea Weissbach aus Oberhausen

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