Essener Altenheim verzichtet auf Fixierungen

„Wir haben praktisch 365 Tage, 24 Stunden lang darauf gewartet, dass ein Bewohner eventuell stürzt. Das steht in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Vorfällen“, weiß Pflegedienstleiterin Sabine Hoffmann. Die Bettgurte sind längst aus der Praxis des Bethesda Altenheims verschwunden. Nur im Keller findet sich noch ein altes Exemplar. Ab damit in die Tonne!
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Tief in den Kellerräumen vergraben findet sich noch einer der alten Bauchgurte. „Die waren über Jahrzehnte Standard!“, weiß Pflegedienstleiterin Sabine Hoffmann, „Strangulationsverletzungen nur eine der Folgen“. Im Altenheim Bethesda in Essen-Borbeck ist die Ära der Fixierungen jedoch vorbei. Zur Freude von NRW-Justizminister Thomas Kutschaty.

„Glücklicherweise“, erinnert sich auch die Pflegefachkraft nur ungern zurück an Zeiten, als Patienten mithilfe von Gurten, Gittern, Vorstecktischen und sedierenden Medikamenten an ihre Betten gefesselt wurden. Und das ist gar nicht lange her. In Borbeck schlug man 2013 endlich den sogenannten „Werdenfelser Weg“ (siehe Hintergrundinfo unten) ein, reduzierte die Zahl der Fixierungen innerhalb eines Jahres schon um 80 Prozent. Heute gibt es keinen einzigen Fall mehr an der Wüstenhöferstraße 177. Die Bewohner können sich frei bewegen.
Bei Personal und Angehörigen hat ein Umdenken eingesetzt. Anstelle der Fixierungen sind Schutzmaßnahmen, Bewegungstraining und Betten auf Bodenniveau getreten. „Die Gitter haben den Bewegungsdrang der Betroffenen ja auch nicht gestoppt, sondern im Gegenteil die Bett- und damit Fallhöhe noch verschärft“, weiß Kutschaty, der sich selbst seit fünf Jahren mit dem Thema beschäftigt und die Folgen der Fixierungsmaßnahmen kennt. Neben der Beschneidung der Persönlichkeits- und Freiheitsrechte führten diese zu Muskelabbau, zu Wundliegen und Inkontinenz bishin zu Strangulation der Alten und Kranken. Dennoch seien die Zahlen der Genehmigungen rapide angestiegen, bundesweit von 50.000 im Jahr 2000 auf 100.000 Fälle zehn Jahre später. Allein in NordrheinWestfalen wurden in 2010 rund 23.700 gerichtliche Fixierungsmaßnahmen erteilt. Bei etwa 150.000 vollstationär untergebrachten Personen ist dies jeder siebte Heimbewohner.

"Fesselnde Fürsorge"

Grund für diese Entwicklung sei „fesselnde Fürsorge“, so der Minister und meint damit ein übersteigertes Schutzverständnis. Jeder dritte Mensch stürze statistisch gesehen immerhin einmal jährlich - ein hohes Risiko speziell bei Pflegebedürftigen. Vor möglichen Folgen wollen Angehörige ihre Lieben natürlich schützen. Hinzu kommt die rechtliche Absicherung des Personals. „Niemand möchte für mangelnde Aufsicht in Haftung genommen werden“, kennt Sabine Hoffmann die Sorgen der Mitarbeiter. Aufklärungsarbeit, zum Beispiel in Form von Informationsabenden, sei vonnöten gewesen und wird es auch in Zukunft sein, weiß Einrichtungsleiter Bernd Hoffmann. 365 Tage im Jahr ans Bett fesseln aufgrund der geringen Chance auf einen folgenschweren Unfall, dies stehe einfach in keinerlei Verhältnis. Und die Praxis in Essen zeigt: Auffangmatratzen vor den niedrigen Betten, Bewegungssensoren & Co. reichen auch in komplizierteren Fällen, kein einziger Bewohner habe eine Fixierung in den vergangenen Monaten mehr nötig gehabt. Die Gurte sind längst aus den Wohnbereichen verschwunden, „da soll auch niemand mehr in die Versuchung geraten“, warnt Hoffmann. Einer findet sich schließlich noch verstaubt im Keller. Um umgehend in der Tonne zu verschwinden.

Hintergrund: Fixierungen

- Rechtlich ist der Einsatz von Fixierungsmaßnahmen von jeher nur unter engen Voraussetzungen zulässig. So benötigen gerichtlich bestellte Betreuer und Vorsorgebevollmächtigte gemäß Paragraf 1906 Abs. 4, 5 BGB eine Genehmigung des Betreuungsgerichts, wenn sie die Sicherung der pflegebedürftigen Person mittels Fixierungsmaßnahmen vornehmen lassen wollen. Das Betreuungsgericht darf eine Fixierungsmaßnahme nur genehmigen, wenn sie sich zum Schutze des Betroffenen als verhältnismäßig erweist. Dennoch hat sich eine Fixierungsroutine in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen eingeschlichen.
- Dieser Entwicklung tritt der „Werdenfelser Weg“ entschieden entgegen. Er verfolgt das Ziel, Fixierungen auf ein unumgängliches Maß zu reduzieren. Für die gerichtliche Prüfung bedeutet dies: Ein Verfahrenspfleger mit pflegefachlicher Kompetenz steht der schutzbedürftigen Person zur Seite. Verantwortungsvolle Einzelentscheidungen und lebenspraktische Lösungen sind dabei gefragt. Erstmals wurde dieser Weg 2007 im Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen beschritten.

Autor:

Sara Drees aus Dortmund

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