Kolumne „Blick ins Leben“ von Heidi Prochaska

Ein erster Eindruck

Jeder weiß es, der erste Eindruck ist wichtig. Sie, ich und die Person, die Ihnen vielleicht gerade gegenüber sitzt und Sie anschaut. Für den ersten Eindruck gibt es, so ein Sprichwort, keine zweite Chance.

In meinen Deeskalationsseminaren arbeite ich mit den unterschiedlichsten Menschen. Ein Mann fällt mir sofort auf. Während sich die anderen Teilnehmer vorstellen, lenkt er mich ab und ich schaue zu ihm hinüber. Er trägt Jeans, die nicht nur alt, sondern auch dreckig sind. Sein T-Shirt ist am linken Ärmel eingerissen, sein Gesicht verlebt, die schulterlangen Haare fettig. Ich kann nicht sagen, ob ich meine Mimik im Griff habe, meine Gedanken sind eindeutig. Ich frage mich, was macht solch ein Typ in meinem Seminar und stecke ihn in eine Schublade.

Als letzter in der Vorstellungsrunde hat er schließlich das Wort. Er ist Sozialarbeiter und bei dieser Berufsbezeichnung rutscht er noch ein bisschen tiefer in meine Schublade. Ich höre ihm weiter zu - aufmerksam und fokussiert. Wird sich mein erstes Bild von ihm bestätigen?

Er erzählt über seine Arbeit als Chef einer Wohnungslosenhilfe, die er freundlich und klar leitet. Mitarbeiter wie Kunden schätzen seine Stringenz und die Grenzen, die er zieht und durchsetzt. Mit jedem Satz verändert sich mein erster Eindruck und er springt mit Schwung aus meiner Sozialarbeiterschublade wieder heraus. Ich habe sie offen gelassen.

Diese wahre Geschichte verwende ich häufig als Beispiel für unsere Einstellungen und Haltungen, welche viel mit dem Thema der Deeskalation zu tun haben. Eine häufige Reaktion zum Aussehen des Sozialarbeiters ist: „Das muss doch nicht sein. Hätte er sich nicht wenigstens für das Seminar ordentlich anziehen können!“

Stimmt! Hätte er – hat er aber nicht, obwohl es sinnvoll und bei ein wenig nachdenken sogar logisch gewesen wäre. Was machen wir mit Personen, die nicht unseren Normen und Erwartungen entsprechen? Wir verurteilen schnell und vernichtend. Die blonde Tussi, der blöde Glatzkopf, der arrogante Anzugträger, der dreckige Versager.

Bei jedem einzelnen Fall sollten wir genau hinschauen und unsere mentalen Schubladen offen stehen lassen. Der erste Eindruck kann täuschen!

Das ist die politisch korrekte Antwort auf dieses Thema. Interessiert Sie auch eine zweite Meinung, die genauso wahr ist wie die erste? Vorsicht! Die nächsten Sätze könnten Ihnen nicht gefallen.

Warum spielt der Sozialarbeiter dieses Spielchen? Er veralbert andere Menschen, manipuliert sie, um dann selber als moralisch und intellektuell überlegen dazustehen. Dafür nutzt er einen natürlichen Mechanismus aus, der unser Überleben sichern soll: der schnelle und unmittelbar erste Eindruck der uns sagt, ob uns Freund oder Feind gegenübersteht.

Gerade dieser Mechanismus ist wichtig, wenn es um Sicherheit und Deeskalation geht. Wird diese Einschätzung ständig ad absurdum geführt, dann vertrauen wir ihr nicht mehr und stehen den Aggressoren hilflos gegenüber oder bringen uns selber in gefährliche Situationen.

Wir müssen unserem ersten Eindruck vertrauen können und wir müssen gleichzeitig offen bleiben für Änderungen. Auf jeden Fall aber sollten wir erkennen, wann jemand einfach nur Spielchen mit uns spielt.

Autor:

Heidi Prochaska aus Essen-Borbeck

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