Enttäuschte Erwartungen: Flüchtlingen einen Funken Hoffnung geben will die Einrichtung an der Kapitelwiese

Teamarbeit in Stoppenberg: Einrichtungsleiter Nouredine El Ghoulbzouri, Michael Neuhaus und Lothar Jekel vom Runden Tisch Zollverein sowie Ridda Martini von European Homecare stehen in stetem Kontakt. Foto: Gohl
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  • Teamarbeit in Stoppenberg: Einrichtungsleiter Nouredine El Ghoulbzouri, Michael Neuhaus und Lothar Jekel vom Runden Tisch Zollverein sowie Ridda Martini von European Homecare stehen in stetem Kontakt. Foto: Gohl
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War in den letzten Monaten in Essen von Flüchtlingen die Rede, ging es meist um Zahlen: Wie viele kommen morgen, im nächsten Monat, bis Ende des Jahres? Niemand kann das beantworten, denn niemand weiß, wie sich die Krisenherde dieser Erde entwickeln und ob sich neue bilden werden.

Sicher ist nur: Essen muss zunehmend mehr Asylbewerber aufnehmen, braucht Unterkünfte und vor allem Kümmerer. Menschen aus völlig fremden Kulturen, die meist ohne Sprachkenntnisse eintreffen, brauchen Hilfe bei der Eingewöhnung. Kümmerer - das sind die professionellen Mitarbeiter der Firmen, welche die Unterkünfte betreuen. Das sind aber auch Ehrenamtler, die mit Sport, Spiel und Sprachunterricht die Probleme der Neuankömmlinge zu erleichtern suchen.
Solche Beispiele für Integration gibt es diverse in Essen. Der Stadtspiegel hat als Beispiel mit Menschen in Stoppenberg gesprochen, die in der Behelfseinrichtung der ehemaligen Hauptschule Kapitelwiese arbeiten, helfen - und leben. (Pf)

Perspektiven schaffen

Die Stoppenberger Behelfseinrichtung Kapitelwiese ist seit Oktober 2014 nicht nur Wohnort von rund 200 Flüchtlingen, zugleich ist sie Heimat vieler geplatzter Träume und großer Hoffnungen. Komfort erwartet die Bewohner der Einrichtung nicht, dafür wollen Stadt Essen und European Homecare den Flüchtlingen zumindest eine Perspektive geben.
Seit dem 22. November 2014 ist die Stoppenberger Behelfseinrichtung Kapitelwiese bezugsfertig. Verteilt auf zwei Standorte sollten ursprünglich 140 Flüchtlinge hier Schutz finden, jeweils 70 pro Standort. Einer ist für Familien gedacht, der andere für die sogenannten „Alleinreisenden“. Mit Veröffentlichung der neuen Flüchtlingszahlen Anfang des Jahres wurde die Summe auf 205 erhöht, das hat Konsequenzen für das ehemalige Belegungskonzept. Zwar geschieht nichts ohne Einwilligung der Bewohner, trotzdem wird es künftig etwas enger in den Zwölfmann-Zimmern: „Entscheidend ist nicht, wie viele in einem Zimmer sind: Das ist Komfort. Aber die Seele hier ist vorbildlich“, ist sich Ridda Martini, Einrichtungsleiter von European Homecare, sicher.
Die meisten Flüchtlinge hatten sich ihr Leben in Deutschland deutlich anders vorgestellt, als sie Heimat und Familie zurückließen. Nicht selten versprechen Schlepperbanden Landbesitz, Geld, Haus und blendende Zukunftsperspektiven, um ihre potenziellen Opfer zu ködern. Abhängig vom Status der Flüchtlinge droht in Wirklichkeit monatelanges Warten auf die Abschiebung, Hab und Gut in der alten Heimat sind verloren. Wieder andere haben erschütternde Erlebnisse und eine tragische Flucht hinter sich. „Die Traumatisierung kommt nach und nach. Sie tritt meistens beim Warten auf“, weiß Martini. Nicht immer sind die Aussichten für die Flüchtlinge rosig, abhängig vom Herkunftsland steht die Abschiebung für einige bereits fest. Ihnen bleibt nur die Chance, die Ablehnung des Verfahrens möglichst lange hinauszuzögern.
Gewartet wird viel, trotzdem sind Einrichtungsbetreiber und Stadt Essen bemüht, den Flüchtlingen Struktur im Alltag zu geben: „Wir sollten den Asylsuchenden eine Perspektive bieten“, erläutert Homecare-Mitarbeiter Martini die Zielvorgabe. In der Kapitelwiese können die Flüchtlinge nicht gelernte Dinge nachholen, banales Beispiel dafür: Nur wenige haben in ihren Heimatländern Fahrradfahren gelernt, durch die Fähigkeit öffnen sich den Bewohnern neue Möglichkeiten der Mobilität. Die ist gefragt, denn im Alltag müssen die Flüchtlinge oft lange Wege in Kauf nehmen. Ob zur Schule oder zum Amt, eher selten liegt das Ziel in der direkten Umgebung. Die Beschulung der Kinder hält Martini für extrem wichtig: „Ob Bleiben oder Rückkehr, sie sollen Bildung mitnehmen.“ Auch davon ab werden die Bewohner aktiv: Wer in der Einrichtung kleine Jobs erledigt, egal ob Dolmetscher oder Putzhilfe, kann sich etwas dazu verdienen. Zusätzlich gibt es jeden Tag mindestens drei Angebote, das kann eine Domino- oder Puzzlemeisterschaft, aber auch ein Musik-Kurs sein: „Damit wir das klarstellen: Das machen die in ihrer Freizeit“, räumt Einrichtungsleiter Martini trocken mit dem Vorurteil des faulenzenden Asylbewerbers auf.
Der Weg in den Bezirk wurde den Asylsuchenden von Anfang an durch die Gründung des Runden Tisch Zollverein erleichtert. Vorbild war hier die Einrichtung in Dellwig, immer wurde für Planung und Organisation ein enger Kontakt zwischen Betreiber und Anwohnern gesucht. „Der Runde Tisch Zollverein ist ein Bisschen Spiegel des Bezirks“, findet Lothar Jekel, Mitbegründer der Initiative. Die ständigen Gespräche zwischen Einrichtungsleiter, Vertretern des Runden Tisches und Ehrenamtlern ist dabei ein Geben und Nehmen, alle lernen im Laufe der Zeit.
„Unsere Idee ist, die Erfahrungen noch auf andere Einrichtungen zu übertragen“, verrät Michael Neuhaus, der zweite im Bunde, die Idee des Runden Tisches. Kaffeeklatsch an der Kapitelwiese, ehrenamtlicher Deutschunterricht am nahe gelegenen Schulzentrum sowie Fußballtraining mit dem FC Stoppenberg sorgen dafür, dass die Bewohner der Einrichtung Teil des Bezirks werden. „Die Kapitelwiese läuft großartig“, resümiert Martini.

Eine ganz normale Flucht: Zwischen IS, Lager und Fußballtraining

Was die meisten Deutschen nur aus den Nachrichten kennen, hat er am eigenen Leib erfahren müssen. Im zweiten Jahr seines Ingenieurstudiums erhält Enzan (Name von der Red. geändert) Drohungen, weil er Jeside ist – und die Mitglieder der Nordkurdischen Minderheit keine Universitäten besuchen dürfen. Als der Fahrer des Busses, mit dem der angehende Ingenieur sonst nach Mossul pendelt, bei einem Anschlag getötet wird, bricht er das Studium aus Angst um sein Leben ab. Es kommt schlimmer: Nur kurz darauf entschließt sich die Familie für die Flucht aus der Heimat, denn der Islamische Staat rückt an und hinterlässt eine blutige Spur von Folter, Mord und Gewalt.
Die Reise durchs Gebirge und mit überfüllten Transportern dauert lange, am Ende erwartet die Familie lediglich ein Lager, in dem es weder sanitäre Anlagen noch sauberes Wasser gibt. Hier fällt die Familie die gemeinsame Entscheidung, dass Enzan sein Studium fortsetzen und deshalb nach Deutschland soll. Einige Wochen später steht der Student dann ohne jegliche Habseligkeiten vor der Einrichtung im Bayrischen Brahmstadt – ein Gnadengeschenk des Schleppers, ihn nicht einfach auf einem Feld abzusetzen –, im Januar landet er schließlich an der Essener Kapitelwiese.
Enzan ist zwar dankbar, hier endlich Ruhe und Frieden zu finden, eingelebt hat sich der junge Nordiraker in der Einrichtung aber nicht. Auf einem Mobiltelefon hat er sich eine Sprach-App runtergeladen, in seiner Freizeit paukt er eifrig Deutsch. Seine Gedanken sind dabei weiter bei seiner Familie, die noch immer in dem Lager wartet. Enzans Ziele sind bescheiden: Er möchte Deutsch meistern, das Ingenieur-Studium fortsetzen und vielleicht irgendwann seine Familie nach Deutschland holen. Ein kleiner Glücksmoment: Beim FC Stoppenberg darf er in den Trainingseinheiten mitspielen.

Längst nicht jeder bleibt in Essen

Flüchtlinge werden in Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer aufgenommen. Von dort aus werden die Asylbewerber den Kommunen zugewiesen. In Essen entsteht auf dem früheren Kutel-Gelände in Fischlaken eine Erstaufnahmeeinrichtung.
Die ehemaligen Hauptschulgebäude an der Kapitelwiese in Stoppenberg gehört zu den Behelfseinrichtungen. In ihnen finden Flüchtlinge zunächst Zuflucht, wenn sie aus einer Erstaufnahmeeinrichtung nach Essen geschickt werden. Diese Heime sind als Interimslösung geplant - bis zur Fertigstellung der regulären Übergangswohnheime.
Dauerhafte Standorte mit Wohncontainern sollen in Essen hier entstehen: Hubertstraße, Pläßweidenweg, Stauseebogen, Lerchenstraße, Ruhrtalstraße/Nähe Bahnhof Kettwig, Rauchstraße, Papestraße.
Wer als Asylbewerber anerkannt wird, soll so bald wie möglich in einer Wohnung untergebracht werden. (Pf)

Herzlich Willkommen! Flüchtlinge in Stoppenberg

Nicht nur der Runde Tisch Zollverein zelebriert Willkommenskultur im Bezirk VI. Für großes Aufsehen sorgte auch das Angebot des FC Stoppenberg, die Einrichtungsbewohner am Fußballtraining Am Hallo teilnehmen zu lassen. Auch das hiesige Schulzentrum beteiligt sich: 18 Lehrer haben sich bereit erklärt, in ihren Schulräumen Angebote für die Bewohner der Einrichtung an der Kapitelwiese, zu gestalten. Zusätzlich gibt es einen Schwimmkurs für Frauen in dem neu gestalteten Badeanstalt. Nicht zuletzt sind eine Vielzahl von Spenden für die Flüchtlinge eingegangen.

Selbst helfen!

Damit die Kapitelwiese in Zukunft so gut wie bisher weiterläuft, hoffen Runder Tisch und Einrichtungsbetreiber weiter auf Unterstützung aus dem Bezirk: Da die jüngeren Kinder keinen Kindergartenplatz haben, suchen die Verantwortlichen nach Organisatoren für ein regelmäßiges Kreativangebot. Zudem werden in der Einrichtung aktuell folgende Dinge benötigt: Schwimmkleidung und Badeschlappen für Frauen, fremdsprachige Bücher sowie kleine CD-Spieler mit Kopfhörern fürs Deutsch-Lernen. Die Spenden kann man von Montag bis Freitag, zwischen 9 und 17 Uhr, direkt in der Kapitelwiese 35 abgeben. Der Stammtisch „Willkommenskultur“ findet jeden zweiten Mittwoch im Monat, jeweils um 19 Uhr, im Fünf-Madelhaus, Hugenkamp 35, statt.

Autor:

Alexander Müller aus Essen-Borbeck

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