Angst verleiht Flügel

Es schien ein ganz normaler Schultag zu werden, dieser Tag vor über fünfzig Jahren in der Mittelstufe des Hohenlimburger Gymnasiums. Die einzige „Abwechslung“ würde die Mathematikarbeit werden, die nach der großen Pause zwei Schulstunden in Anspruch nehmen sollte. Ich fühlte mich gut vorbereitet und sah dieser daher frohgemut entgegen.
Als das Klingelzeichen das Pausenende einläutete, strebten alle Schülerinnen und Schüler zu ihren Klassenräumen, alle – außer mir. Ich suchte noch schnell die Toilette auf und befand mich jetzt allein in diesem Raum. Sehr schnell wollte ich mich wieder auf den Weg zu meinem Klassenraum begeben, doch was war das?
Der Türknauf ließ sich zwar drehen, aber die Tür öffnete sich nicht. Ich konnte es nicht glauben und versuchte es gleich noch einmal, jedoch wieder ohne Erfolg. Ich schrie:“ Hilfe, hört mich denn keiner?“, aber es kam keine Reaktion. Ich spürte, wie mir langsam heiß wurde, und mein Herz schlug bis zum Hals. Die Angst drückte mir buchstäblich die Kehle zu. Ich rannte auf und ab, wobei ich in der engen Kabine nur jeweils einen Schritt in die einzelnen Richtungen machen konnte. Immer wieder rüttelte ich an der Tür, doch das Schloss gab einfach nicht nach. „Genau so müsste sich ein wildes Tier im Käfig fühlen“, dachte ich.
Blitzschnell spulten sich einige mögliche Szenarien in meinem Kopf ab. Wie würde unser Mathematiklehrer, der strenge unnahbare Herr Direktor, auf mein Nichterscheinen reagieren? Die Chance, die Arbeit nachschreiben zu dürfen, schätzte ich als gering ein. Eher würde es ein „Ungenügend“ für eine nicht erbrachte Leistung geben! Eigentlich konnte ich mir nicht erlauben, noch einmal unangenehm aufzufallen, so wie unlängst an einem heißen Sommertag. Damals fand der Mathematikunterricht in der sechsten Schulstunde statt. Ermattet hingen alle auf ihren Stühlen. Hitzefrei hatte es nicht gegeben. Trotzdem bemühte sich der Direktor, uns komplizierte Sachverhalte der Mathematik näher zu bringen. Normalerweise beteiligte ich mich rege an seinem Unterricht. Aber diesmal war ich einfach zu müde, um meinen Finger hochzuheben, obwohl ich die Antwort wusste. Niemand meldete sich. Nun sprach er einige Schüler persönlich an, erhielt jedoch keine Reaktion. Am Ende war ich an der Reihe und nannte unglücklicherweise die Lösung, ohne groß darüber nachzudenken. Was dann geschah, war fürchterlich. So hatte ich den stets korrekt auftretenden Herrn Direktor noch nicht erlebt! Er ballte die Fäuste, und sein Gesicht lief rot an. Die Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Und dann prasselte das Donnerwetter über mich herein. Er war wirklich außer sich und brüllte: „Das ist eine Unverschämtheit! Was fällt dir ein? Warum meldest du dich nicht, obwohl du die Antwort weißt?“ Schlagartig war meine Müdigkeit verflogen, und ich erschrak heftig. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass ich von da an wieder ganz bei der Sache war.
Und jetzt auch noch diese unsägliche „Käfigsituation“! Es musste eine Lösung geben! Da fiel mein Blick auf die Wände der Kabine. Sie reichten längst nicht bis zur Decke des Raumes. Es hatte sogar schon einmal Ärger gegeben, weil sich einige jüngere Schülerinnen erdreistet hatten, die Toilette als Leiter zu missbrauchen. Aus dieser erhöhten Position hatten sie dann andere bei ihren intimen Bedürfnissen beobachtet. Man müsste oben über die Wand klettern und könnte dann in der Nebenkabine mit intaktem Türschloss landen. Doch wie sollte ich das bewerkstelligen? Von der leichtfüßigen Eleganz einer Elfe war ich leider so weit entfernt wie ein Elefant vom tänzelnden Flügelschlag eines Schmetterlings.
Trotzdem musste ich es versuchen. Verzweifelt stieg ich auf den Toilettendeckel und klammerte mich oben an die Kabinenwand. Einen Fuß schwang ich auf die Druckleitung für die Toilettenspülung und bewegte den anderen nach oben in Richtung Wand. Mit beiden Händen zog ich mich hoch und hoffte inständig, dass die Druckleitung nicht unter meinem Gewicht zusammenbrechen würde. Ich war wahnsinnig aufgeregt, und mein Herz pochte wild. Was dann geschah, kann ich bis heute kaum fassen. Es gelang mir tatsächlich, beide Beine über die Wand zu bekommen. Ich ließ mich fallen und landete in der Nebenkabine. Die Tür war offen. Überglücklich rannte ich los und stand schließlich außer Atem vor der Klassentür. Drinnen war es mucksmäuschenstill. Ich nahm all meinen Mut zusammen. Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Meine Klassenkameraden hörten sofort auf zu schreiben und blickten gespannt auf mich, das Häufchen Elend. Barsch fuhr mich der Herr Direktor an: „Wo kommst du denn jetzt noch her?“ „Ich“, stammelte ich, „ich war auf der Toilette eingeschlossen.“ Gerade wollte ich zu einer langatmigen Schilderung der Geschehnisse ansetzen, als ich auch schon unterbrochen wurde: „Setz dich, und geh endlich an die Arbeit!“ Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag, und ich konnte meine Aufgaben fristgerecht zu Ende bringen. Der Direktor verlor nie wieder ein Wort über dieses Debakel, und ich dachte bei mir: “Angst kann sogar Flügel verleihen.“

Autor:

Inge Pietschmann aus Essen-Nord

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