Die Prognose über Menschen

Wie wird nichts Wissen dargestellt?

Die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, Doris Schröder-Köpf, sorgt sich völlig zurecht vor einem „Rückfall in alte Reflexe“ und warnt davor, „wieder in das alte Spiel zu verfallen und die Welt in gute Flüchtlinge und schlechte Flüchtlinge zu unterteilen“.

Ich hoffe, das ist eine Umkehr der SPD, 'wech' von den Werten der Herren Thilo Sarrazin und Gerhard Schröder.

Ist es interessant, dass die Gebrauchsanleitungen, die bereits in den 80er und 90er Jahren alles andere als hilfreich waren, nun erneut aus der Schublade gezogen werden sollen. Diese Herangehensweise ist nicht nur sozial- und integrationspolitisch falsch, sie führt neben der verordneten sozialen Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe auch zu einem gesellschaftlichen Klima der „Verachtung“ gegenüber Menschen mit „geringer Bleibeperspektive“ – übersetzt: Menschen aus dem Balkan. Unausgesprochen, aber in Wahrheit gemeint: Roma.

Ausgerechnet die Stochastik wird zum Verteilungskriterium sozialer Teilhabe, nicht unsere Verfassugng - Hohe Bleibeperspektive, geringe Bleibeperspektive! Guter Flüchtling - schlechter Flüchtling. Personalnot im Ministerium?
Laut Wikipedia handelt es sich bei der „Stochastik“ um die Kunst des Vermutens oder Ratekunst. Sie ist ein Teilgebiet der Mathematik und fasst als Oberbegriff die Gebiete Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik zusammen.
Die „Ratekunst“ – also die Prognose, ob jemand über eine geringe oder über eine hohe Bleibeperspektive verfügt – scheint mehr und mehr zum Instrument der Verteilung von Teilhabechancen zu werden. Als ob die Teilhabe an der Gesellschaft nicht jedem Menschen zusteht! Zumindest nach unserem Grundgesetz. Allein die Frage, ob jemand eine „hohe“ oder „geringe“ Bleibeperspektive hat, ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ergebnis bestimmter rechtlicher Regelungen. Das heißt, über die Gestaltung des Rechts wird die Bleibeperspektive erst zu einer „hohen“ oder „geringen“ gemacht.
Der Begriff der „geringen Bleibeperspektive“ ist faktisch nichts anderes als ein Synonym für die in den ideologischen Debatten der 80er und 90er Jahre genutzten Kampfbegriffe „Asylbetrüger“ oder „Scheinasylanten“. „Wirtschaftsflüchtling“, richtig wird die Ideeologie darurch nicht. Menschen halten sich schlichtweg nicht an die in sie hinein projizierte „geringe Bleibeperspektive“. Sie bleiben dennoch lange oder für immer hier, sie kommen wieder oder schaffen sich selbst eine hohe Bleibeperspektive.
Die politische Diskussion um die „Gastarbeiter“ der 60er und 70er Jahre und die „Wirtschaftsflüchtlinge“ der 80er und 90er Jahre ging bereits in die gleiche Richtung: Auch diesen Gruppen war damals eine „geringe Bleibeperspektive“ zugeschrieben worden.
Unter anderem war dies der Grund, warum soziale Teilhabe verweigert oder nicht für notwendig erachtet wurde. Erst sehr viel später hat man erkannt, dass die damalige Politik eine integrations- und sozialpolitische Geisterfahrt war, die später aufwändig und schmerzhaft korrigiert werden musste. Muss nun derselbe Fehler zum dritten Mal wiederholt werden? Auch unter dem Gesichtspunkt, das man eine HARTZ-Gesetzgebung immernoch für Erfolgreich hält?

Die Gesetzesbegründung aus dem BMAS geht auf den Widerspruch zum GG mit keinem Wort ein. Die Relativierung der Menschenwürde, durch Leistungskürzung auf das physische Existenzminimum!

Wie das Bundesverfassungsgericht am 18. Juli 2012 entschied:
„Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsperspektive in Deutschland rechtfertigt es im Übrigen nicht, den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Art. 1 Abs. 1 GG garantiert ein menschenwürdiges Existenzminimum, das durch im Sozialstaat des Art. 20 Abs. 1 GG auszugestaltende Leistungen zu sichern ist, als einheitliches, das physische und soziokulturelle Minimum umfassendes Grundrecht. (…). Die einheitlich zu verstehende menschenwürdige Existenz muss daher ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland realisiert werden.“ (…) „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Neben den bereits jetzt bestehenden Leistungseinschränkungen für ausreisepflichtige Personen und Personen mit Duldung, die aus Sicht der Ausländerbehörde entweder eingereist sind, um Sozialleistungen zu erhalten oder die ihr Abschiebungshindernis selbst zu vertreten haben, auf das „unabweisbar Gebotene“, werden weitere Leistungskürzungen [nach § 1a AsylbLG] vorgesehen:
* Vollziehbar Ausreisepflichtige sollen künftig nur noch die Leistungen des „physischen Existenzminimums“ erhalten (das heißt: einen umgerechneten Regelbedarf von 216 statt 359 Euro), wenn sie aus selbst zu vertretenden Gründen nicht abgeschoben werden können.
* Das gleiche soll gelten für Personen mit Aufenthaltsgestattung oder vollziehbarer Ausreisepflicht, wenn für sie aufgrund einer Umsiedlungsaktion der EU ein anderer EU-Staat zuständig ist, oder wenn sie als Schutzberechtigte eigentlich in einem anderen EU-Staat leben müssen - auch wenn sie dort von Obdachlosigkeit und sozialer Isolation bedroht sind.

Das europäische Versprechen der Freizügigkeit gilt eben nur für „uns“, nicht für „die anderen“.
Abgesehen von der Frage, wer eigentlich „vollziehbar ausreisepflichtig“ ohne Duldung sein soll und was der Unterschied zwischen dem „unabweisbar gebotenen“ und dem „physischen Existenzminimum“ sein soll, sind diese Regelungen offenkundig mit der Verfassung nicht zu vereinbaren – wie auch ein juristischer Laie ziemlich schnell erkennen kann.

Wie kann ein Volk seiner Regierung nur beibringen, dass das offensichtliche in unserem Grundgesetz nicht national gedacht war, ist und sein darf? Die Würde des Menschen in unserer Verfassung steht für jeden Menschen - nicht für DEN Deutschen.

Autor:

Mathias Hofmann aus Essen-Steele

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