Voll daneben und doch ein Volltreffer...

Schon lange dürfen Lehrer ihre Schüler nicht mehr schlagen, was die vielleicht abwegige Frage aufwirft, ob deshalb nach der Meinung mancher Zeitgenossen Schule bei vielen Schülern kaum noch Spuren hinterlässt. Oder anders gefragt: Gibt es schlagkräftige Beweise dafür, dass früher doch nicht alles schlecht gewesen sein konnte, aber so manche Dinge heute besser? Oder auch umgekehrt? Sogar in Schulen passieren manchmal Dinge, die weder beabsichtigt noch vorherzusehen sind. Ich meine jene merkwürdigen Ereignisse, bei denen aus Stroh Gold geworden ist, oder jemand nichtsahnend Gutes bewirkt, indem er Schlechtes tut.

Um einer Antwort auf diese Frage näher zu kommen, schlage ich vor, wir drehen die Zeit um ein gutes halbes Jahrhundert zurück in das Jahr 1962 und begeben uns jetzt in eine kleine Stadt in Ostwestfalen, in das Klassenzimmer einer Realschule, wo gerade der Biologieunterricht unseres Direktors beginnt. Wir sind 28 zwölf- oder dreizehnjährige Jugendliche in einer schon damals gemischtgeschlechtlichen Klasse.

„Hotte“ ist mittelgroß, mittelschlank und sicher kein Mensch, dem man irgendeine aggressive Ader zuschreiben würde. Sein Gesicht strahlt weise Gelassenheit aus, das graumelierte Haar verrät die nahende Pensionierung. Der Mann mit dem Spitznamen Hotte, eine leicht abgewandelte Verkürzung seines Familiennamens, ist Direktor der Realschule. Und noch etwas: Hotte ist vor allem auch dafür bekannt, dass er fast nie sitzend unterrichtet, sondern es vorzieht, meistens auf und ab gehend zu dozieren. Ob die Anordnung der Sitzgelegenheiten auch in unserem Klassenraum seinerzeit einer Regieanweisung dieses Mannes gefolgt war, ist mir nicht bekannt. Doch so, wie sie platziert sind, würde es niemanden wundern: je acht Reihen 2-er-Bänke links und rechts eines Mittelgangs, was seiner Art und Weise des Unterrichtens wie maßgeschneidert entgegenkommt. Solche Holzbänke stehen heute in Museen, wo sie von der guten oder schlechten alten Zeit Zeugnis ablegen und wortlos davon berichten, wie Generationen von Schülern dort einmal gearbeitet, geschlafen, geträumt, geschwafelt, geantwortet oder einfach gar nichts gemacht haben dürften.

Wie immer setzt sich Hotte auch zu Beginn dieser Biologie-Stunde nur kurz an seinen Schreibtisch vor der anthrazitfarbenen Wandtafel und blättert in seinen Notizen, bevor er in der bekannten Manier mal mit fast militärisch anmutendem Schritt und dann wieder eher flanierend den Mittelgang abschreitet: von der Tafel aus bis zur gegenüber liegenden Wand und wieder zurück, ab und zu bei diesem Schüler oder jener Schülerin kurz verweilend, um schon im nächsten Moment wieder in Bewegung zu sein.

Währenddessen schaut der eine oder die andere von uns wohl gedankenversunken auf die Arbeitsfläche der Bank, wo mehr oder weniger Lesenswertes von wem auch immer verewigt worden war, schreibt womöglich selbst noch einen Kommentar dazu oder ergänzt die Bildergalerie um ein eigenes kleines Kunstwerk, obwohl wir das Wort Graffiti noch nicht kennen. Alles ist ruhig und scheint auch weiter ruhig zu bleiben. Links und rechts die Lernenden, in der Mitte der sich immer in Bewegung befindliche Lehrkörper mit dem graumelierten Haar.

Unser Raum ist liegt in der 1. Etage - ich sitze in der 4. Reihe zum Mittelgang hin, von der Tafel aus gesehen in der rechten Bankreihe, mein bester Freund links neben mir, wo sich auch die Fenster zum Schulhof befinden. Und auch ich hocke träumend da, mein Kinn in die linke Hand gestützt und zugleich ungeschützt zum Mittelgang hin, wo Hotte gerade an mir vorbei geht und mich dann nicht mehr sehen kann, weil selbst ein Direktor hinten keine Augen hat. Aber seinen Ohren ist es zu verdanken, dass die Redensart „Aus den Augen, aus dem Sinn“ schon im nächsten Moment und im wahrsten Sinne des Wortes voller Wucht außer Kraft gesetzt wird. PATSCH!!! Ich werde aus allen Träumen gerissen, als die flache Hand des Lehrers mir eine solche Backpfeife auf die zum Gang hin ungeschützte Wange verpasst, dass mir Hören und Sehen vergeht: wie ein Blitz aus heiterem Himmel! Was ist los?! Wieso werde ich geschlagen?! Hab ich was verbrochen?! Nein, hab` ich nicht!

Aber Hottes Ohren meinen wohl etwas gehört zu haben, was seine Augen in jenem Moment nicht sehen konnten. Blitzschnell umgedreht und einen halben Schritt gemacht, das reichte, um mir diesen Volltreffer zu verpassen, den - wenn überhaupt - der Freund neben mir verdient hätte, weil er vielleicht irgendein störendes Geräusch von sich gegeben hatte. Aber ich war der Schuldige für den Direktor, der dann wohl rein reflexartig reagierte, weil nur ich bzw. meine rechte Wange in diesem Moment eine Angriffsfläche bot.

Sei es , wie es sei. Unser Direktor lag mit seinem Treffer voll daneben, was sein Image als friedvoller Pädagoge positiv ausgedrückt um eine wesentliche Nuance bereicherte. Doch ich trug es ihm nicht lange nach, und auch mein Freund blieb mein Freund bis heute.

Allerdings entpuppte sich dieser fulminante Schlag, auch oder gerade weil er voll daneben ging, später in einem anderen Sinn als Volltreffer. Denn seither bäumt sich sprichwörtlich alles in mir auf, wenn ich wo auch immer miterlebe, dass einem Menschen oder einer Sache massives Unrecht geschieht. Ich weiß nicht mehr, was vom Bio-Unterricht bei mir hängen geblieben ist, weiß aber zu 100 Prozent, was jener verirrte Volltreffer bewirkt hat. Und so gesehen bin ich dankbar bin für diese Erfahrung, die ich schon mit 12 „genießen“ konnte. 22.10.15 - Hans-Jürgen Fuss

Autor:

Hans-Jürgen Fuss aus Essen-Süd

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