Altenessener Wandel – der 30 und mehr Jahre währende Abschied vom Bergbau

Das heutige Allee-Center an der Altenessener Straße Blickrichtung Norden, noch mit Strassenbahnschienen vor U-Bahnbau und Rückbau auf zwei Fahrspuren  ( Archiv Zeche Carl)
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  • Das heutige Allee-Center an der Altenessener Straße Blickrichtung Norden, noch mit Strassenbahnschienen vor U-Bahnbau und Rückbau auf zwei Fahrspuren ( Archiv Zeche Carl)
  • hochgeladen von Walter Wandtke

Essens Norden, ob Altenessen, Karnap oder Bergeborbeck und Vogelheim kommt häufig mit traurigen Schlagzeilen in die Presse, dann ist oft vom Sozialäquator „A 40“; bösen Libanesen-Clans, radikalen Moscheegemeinden, „bildungsfernen Familien“ und vererbten „Hartz 4 – Karrieren“ die Rede. Das gibt es, macht aber nicht die Alltagsrealität hier im Norden aus.
In den Stadtteilen unterhalb und nördlich des „Ruhrschnellwegs“ ist nicht alles grau und trist, aber natürlich bleibt es eine Binsenweisheit, dass Geld in Essen eher in Bredeney und im südlichen Ruhrtal wohnt, als an Emscher und Kanal. Allerdings können Familien mit Kindern im Norden leichter eine größere Mietwohnung bezahlen, oder auf abgeräumten Bergbau- und Industrieflächen schneller das Kapital für ein kleines Reihenhaus ( wenn auch meistens ohne Keller) zusammensparen, als in Rüttenscheid oder Werden.

Zwischen Industriebrache und Start-Up-Area

An vielen Stellen sind aus unwirtlichen Industriebrachen spannende grüne Oasen aus zweiter bis dritter Hand geworden, manchmal sogar hoch moderne neue Gewerbeflächen für „Start ups“ oder Design. All diese positiven Entwicklungen können sicher nicht die zigtausend Arbeitsplatzverluste „alter Industrie“ direkt vor Ort ausgleichen. Natürlich gibt es weiterhin noch große Industriebetriebe die jeweils einige hundert Menschen beschäftigen, sei es die Glashütte in Karnap oder die Trimet Aluminiumhütte in Bergeborbeck. Aber auch Produktionsbetriebe, die sich innovativ ins 21. Jahrhundert vorarbeiten konnten, beschäftigen eben nur noch hunderte und keine tausende Mitarbeiter*innen. Wer in Karnap oder Vogelheim sein günstiges Häuschen bauen konnte, der arbeitet wahrscheinlich eher nicht mehr im Stadtteil nebenan. Der im Ruhrgebiet und seinen Zechensiedlungen früher legendäre solidarische Gleichklang von Arbeitskollegen und Nachbarschaft ist deshalb nur noch glücklicher Zufall.

Stadtteilsolidarität muss professionell organisiert werden

Da stehen dann auf einer Straßenseite propper renovierte, privatisierte ehemalige Zechenhäuser neben neugebauten,blütenweißen und schmalen Einfamilienhäuschen. Durch die große Hauptstraße getrennt, erheben sich gegenüberliegend dann die kinderreichen vierstöckigen Sozialbauten der letzten Jahrzehnte.
Als Folge nimmt die soziale Spaltung innerhalb vieler Nordquartiere zu, Gruppenbildung mit Abschottung und Desinteresse für das restliche Wohnquartier leider ebenfalls. Durch professionelle Sozialarbeit z.B. für eine Stadtteilkonferenz Vogelheim, Katernberg oder Altenessen kann Bürgerengagement aber durchaus erfolgreich wiederbelebt werden. Es gibt nach solchen Konferenzen dann tatsächlich gemeinsame Nachbarschaftsgruppen gegen die Vermüllung der Quartiere. Andere Konferenzen hatte das nähere Kennenlernen und Ausräumen gegenseitiger Vorurteile der unterschiedlichen Communities im Stadtteil mit ihrem klassisch deutschen oder eher arabisch, türkisch, kurdisch, afrikanisch oder russisch gefärbten Hintergründen zur Folge.

Stillgelegte Hinterlassenschaften prägen den Stadtteil

Die Abschiedszeremonie vom Bergbau findet im Essener Norden schon mindestens seit 40 Jahren statt (30 Jahre davon erlebt der Verfasser als teilnehmender Beobachter). In diesen Jahrzehnten lösten sich zigtausend dieser Arbeitsplätzen in Schachtanlagen, auf Kokereien und Zulieferbetrieben, die generationenlang an Kanal und Emscher beheimatet waren, in Luft auf. Bereits seit Ende der siebziger Jahre, bis zum Dezember 1986, förderte in Essen nur noch die eine verbliebene Großzeche Zollverein. Eine ganze neue Generation ist hier mit stillgelegten Hinterlassenschaften des Bergbaus aufgewachsen. Zuwuchernde alte Eisenbahndämme, Restkohlehalden, verrostende Transportkräne, leere Maschinen- und Werkshallen dominierten jetzt weite Flächen im Stadtteil. In solchen Arealen, die teilweise schon Jahrzehnte auf Neunutzung oder Abriss warten, konnten nicht nur Jugendliche eine spannendere Zeit verbringen, als im zugebauten Frohnhausen oder Rüttenscheid.

Touristisch wirksame Industriekultur

Dass später nicht einfach andere Großbetriebe mit Arbeitsplatz intensivem Schichtbetrieb, wie in den sechziger Jahren einst Opel in Bochum diese Flächen wiederbeleben würden, war der kommunalen Wirtschaftsförderung schnell klar. Mit staatlichen Förderkampagnen wie der „Internationalen Bauaustellung - IBA Emscher“ und der anschließenden Aufwertung unserer Region zu einer touristisch wirksamen Industriekultur, wurde stattdessen eine für die Emscherzone neue Form der Stadtentwicklung erprobt. Statt die riesigen Industrierelikte möglichst schnell zu planieren, sollten sie als einzigartige Besonderheiten zur Schau gestellt werden.Das Problem war nur, dass nicht unbedingt die gleichen Mitbürger davon profitieren konnten, die bisher ihre Arbeitsplätze in der Schwerindustrie gefunden hatten. Viele dieser Menschen blieben trotzdem hier, konnten in der Welt von Ruhrtourismus, Gründer – und schlichteren Call-Centern aber auch nicht andocken. Das Nachreisen zu den frischen hochbezahlten Arbeitsplätzen in den High-Tec-Landstrichen in Süddeutschland war da sowieso nur den jungen Absolvent*innen die vielen aus dem Boden gestampften Uni im Ruhrgebiet vorbehalten.

Stadtentwicklung gegen den Dornröschenschlaf

Die gegensteuernde Infrastrukturpolitik der Stadt Essen war mit Investitionen in U-Bahnbau oder neue Schulen wie dem Nord-Ost-Gymnasium durchaus fleißig. Der Handel hat mit der Errichtung einer Einkaufsmall, die jetzt als „Allee-Center“ z.b. die Altenessener Mitte bestimmt, seine Chancen genutzt. Die stadtplanerisch gewollten Eigenheime auf früheren Bergbauflächen verwandelten viele Stätten harter Knochenarbeit in ordentliche Wohnquartiere. Jugendliche trotzten im Verbund mit Bürgerinitiativen und Architekten den Stadtoberen die ehemalige Schachtanlage „Zeche Carl“ als sozio-kulturelles Zentrum ab. Weitsichtige Stadtplaner*innen verhinderten das Wegplanieren der heutigen Ruhrgebietsikone „Zeche Zollverein“ und zogen etliche Millionen Bundes- und Landesinvestitionen für Kultur und Bildung nach Katernberg und Stoppenberg.
Trotz all dieser Planungsleistungen war es aber aussichtslos, die Arbeitsplatzverluste im Montanbereich etwa mit nachrückenden kleineren Gewerbebetrieben oder den viel Fläche fressenden Logistikfirmen wie einer Autospeditionsfirma „Helf“ auch nur ansatzweise auszugleichen. Viele Betriebe konnten mit EDV, Automation und guten Gewinnen trotzdem noch ihre Belegschaften reduzieren.

Arbeitslosenquote: Von 1,5 auf 11 Prozent in 36 Jahren

Eine Arbeitslosenquote, die in Essen anno 1972 bei 1,5% lag und aktuell bei über 11% und mehr steht, also mindestens 33000 Menschen betrifft, bleibt nicht ohne Folgen. Ab mMitte der 70 Jahre wurde unsere Stadt massiv von Zechenstilllegungen betroffen, die innerhalb von 3 Jahren über 12000 Arbeitsplätze im Bergbau und 4000 weitere in der Bergbau abhängigen Industrie wegfegten. Allein die Stilllegung der Schachtanlage Emil-Fritz in Altenessen bedeutete 1973 den Wegfall von 3500 oft gut bezahlter Arbeitsplätze. Im Nachbarstadtteil Karnap waren im Jahr zuvor beim Aus für „Mathias Stinnes“ bereits 2600 Arbeitsplätze im Bergbau „abgebaut“ worden. Betriebe wie die „Essener Eisenwerke“ an der Stauderstr. oder der zeitweilig für seine „Halbdoppeldeckerbusse“ berühmte „Karosseriebau Gebr. Ludewig“ folgen Jahre später.
Das bedeutete damals natürlich keine massenhafte Arbeitslosigkeit, sondern schleichenden Wegzug zu anderen Arbeitsorten und großflächige Frühverrentungen.

Aus Arbeitersiedlungen wurden Spekulationsobjekte

Es hatte aber auch zur Folge, dass früheren Bergbaukonzerne das Interesse am Erhalt ihrer Werkswohnungsbestände verloren. Schon lange hatten sie nicht mehr in diese Immobilien investiert, sondern lieber versucht, sie für attraktivere Neubauprojekte gänzlich leer zuziehen oder zumindest schnellstens an oft dubiose Geschäftsleute wie den berüchtigten Kölner „Miethai Kaussen“ aber auch Essener Handwerkfamilien zu verkauften.
Bar jeder ernsthaften Renovierung, oft überbelegt mit Migranten oder z.B. Flüchtlingen aus dem Libanon, die sich keine anderen Wohnungen leisten konnten, wurden so in den achtziger Jahren aus einigen alten, aber intakten, günstigen Mietquartieren in kürzester Zeit Krisenviertel.
Im zweiten Schritt zogen sich ehemals mit den Stadtteilen verbundene Immobilienbesitzer von Geschäftshäusern beispielsweise an der Karnaper Strasse, am Karnaper Markt oder dem Bahnhof Altenessen wirtschaftlich zurück. Geschäftshäuser wurden so lange nicht mehr gepflegt, bis als der Untergeschosse auch kein 1€-Shop, Tattoo-Laden, Backshop oder Spielhalle mehr anbeißen wollte. Diese Hauseigentümer begnügten sich lange mit den spärlicher fließenden Mieteinnahmen, und wenn wegen des maroden Gebäudezustands auch die letzten Second-hand-Läden aufgaben, wurden viele einstmals stolze Bürgerhäuser zu Schnäppchenpreisen verramscht. Zu allerletzt verfügten die kapitalarmen Neubesitzer erst recht über keine Mittel für die gründliche Sanierung der abgewohnten Immobilien und begannen in Eigenleistungen, nicht selten ohne ästhetische Hemmungen nicht enden wollende Umbauarbeiten.
Als letzte Rettung solcher leerstehender Ladenlokale erwiesen sich dann Migranten, die mit erstaunlichem Optimismus selbst in diesen Bruchbuden noch Gemüseläden, Bäckereien oder Schmuckläden eröffnen.

Soziale Spaltung im Norden

Die klassische Trennung des Essener Stadtgebiets in einen Norden für Fabriken, Zechen und einfache Wohnviertel und den südlich von Hauptbahnhof und A 40 beginnenden Bereich für schönes Wohnen, Unterhaltung, Erholung und Büronutzung, beschreibt ein zu grobes Bild.
In den guten Wohnlagen zwischen Borbeck, Altenessen oder Stoppenberg kapseln viele Familien sich zunehmend von den ärmeren Teilen im Stadtviertel ab. Deren Kinder gehen dann nicht mehr auf die Gemeinschaftsgrundschule, sondern in eine katholische Schule und später aufs Gymnasium, statt in die vielleicht näher gelegene Gesamt- oder Realschule.
Ein „Zukunft Bildungswerk“ gegründet von Turgay Tahtabas zeigt allerdings, was bei guter Zusatzförderung auch bei sogenannten Seiteneinsteiger*innen aus anderen Ländern an nachhaltigem Bildungserfolg möglich ist.
Leider nicht so ganz selten folgen etablierte Migranten mit sicherem Arbeitsplatz und Eigenheim aber biodeutschen Leitsätzen und distanzieren sich ausdrücklich von neu ankommenden Armutsflüchtlingen oder Asylsuchenden. Mit der repräsentativen Moschee an der Hauptstraße bauen sie nicht nur ihren religiösen Versammlungsort, sondern präsentieren sich auch gutbürgerlicher Teil der Stadtgesellschaft ist. Ganz im Gegenteil kann diese langfristige Investition jedoch leicht die Sorgen der noch länger hier lebenden Menschen verstärken, deren Familien bereits vor oder kurz nach dem II. Weltkrieg der Arbeitsplätze wegen im Essener Norden geankert hatten.

Rückzug christlicher Kirchen schafft Ängste

Wenn dann noch viele der oft gar nicht so alten christlichen Kirchen vom Abriss bedroht sind, sich einige bereits zu Bauplätzen von Reihenhäusern und Altenheimen verwandelt haben,scheint das Heimatgefühl selbst mancher Nicht-Kirchgänger bedroht. Schon beklagen SPD-Ratsherrn, vier Moscheevereine und muslimische Gebetsstätten für den Stadtteil Altenessen wären doch zu viel. Tatsächlich zeigt aber die aktuelle Bevölkerungsstatistik, dass z.B. im Stadtbezirk V von 58125 Einwohner*innen mehr als 21500 Nicht-Deutsche- und Doppelstaatler sind. Diese Mitbürgerbürger*innen in Vogelheim, Altenessen und Karnap sind kaum alle Muslime und fleißige Moscheegänger. Dass sie mit ihren anderen religiösen Traditionen den Stadtteil auch architektonisch mitprägen, sollte aber ihr gutes Recht sein. Die verbliebenen evangelischen und katholischen Kirchen, die unauffälligeren freikirchlichen Gotteshäuser oder Gemeindesäle der Zeugen Jehovas, stechen im Straßenbild ja weiterhin hervor.

Blankgeputzte Kehrseiten der Stadtmedaille

Essen wurde mit dem schleichenden Bergbauende kein Armenhaus. Schauen wir einmal in das „Essener Jahrbuch 1973“ und den Monat April: In keiner Stadt im Ruhrgebiet nehmen die Finanzämter in diesen Jahren so viel Steuern ein, wie in Essen. 3940 Mark, das zahlt umgerechnet jeder Bürger dieser Stadt jährlich an den Fiskus, zum Vergleich der Bundesdurchschnitt 1834 DM. Und trotz Krise bei Kohle und Stahl – Essen hat diese Spitzenstellung im vergangenen Jahr noch ausgebaut.“
An der Angestelltenfront und in den Bürotürmen südlich des Hauptbahnhofs für die Konzernzentralen von RWE, Ruhrgas, Rheinstahl, Hochtief oder dem Postscheckamt wurde und wird ja weiterhin mächtig ausgebaut. Wo die alten Energieriesen mit Kohle oder Atomstrom keine großen Gewinne mehr abwerfen, wachsen andere Gewerbezweige sehr wohl nach. Essen ist zum großen Glück nicht Detroit, eine Stadt, die auf Gedeih und Verderb mit dem einen Industriezweig Automobilbau verwoben ist. Essen kann den sozialen Zusammenhalt in den Quartieren und zwischen den Vierteln noch steuern. Dazu braucht es Mittel von Bund und Land, eigene Kraft wird nicht ausreichen, aber mit einem Bündel von Bau- und Bildungsmaßnahmen sollten wir fähig sein, eine gemeinsame gute Zukunft der Nord- und Südhälfte unserer Stadt zu entwickeln.

Die oft bemühten Bilder der Armen- und Migrantenghettos oder sogenannter „No go areas“ führen letztendlich in die Irre. Essens Norden wird nicht unbedingt ärmer, sondern widersprüchlicher und grüner als er vor 40 Jahren war. Seien wir überzeugt – wir besitzen an Berne, Emscher und Kanal noch große Potentiale – Dornröschen schläft nicht mehr.
Walter Wandtke

Autor:

Walter Wandtke aus Essen-Nord

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