Das Weihnachts-Wunder

Fotos: Renate Debus-Gohl
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„Nie vergesse ich 1945!“

Er ist noch immer kernig, lächelt spitzbübisch, erzählt Dinge, die kaum zu glauben sind. Helmut Otto zählt zwar 85 Lenze. Doch beim Stichwort „Weihnachten“ wird er – wusch - um Jahrzehnte jung. Seine Augen leuchten wie beim damals 16-Jährigen. Denn damals schwor er: „Jetzt will, muss ich unbedingt wieder nach Essen kommen. Egal wie. Dann pilger ich nach Neviges.“ Wie er das packte, ist noch immer unfassbar.

Übrigens, Helmut Otto ist keine Unbekannter für Frohnhauser, der jetzt in Altendorf wohnt. Über 20 Jahre war er im Gervinuspark Gärtner. Ein Unikat, der den Park mit viel Herzblut liebte. Sein untrügliches Markenzeichen: Schwarze Baskenmütze.
Rückblende – vor 69 Jahren. Wochen vor Weihnachten. Der 16-Jährige hatte sein Land-Jahr in Vorpommern endlich um. „Mich zog es stark nach Hause, zur Heimat Essen.“

Seine Frau Anneliese, ein Temperamentbündel, läuft das Erzählen nicht schnell genug. Sie weiß alles, als wäre sie dabei gewesen. „Sechs Wochen brauchte er bis nach Essen. Alles zu Fuß! Und da Helmut sich in der russischen Zone befand, musste er sogar die Elbe durchschwimmen. Er fand immer wieder Leute, die ihm was zu Essen gaben; Geschäfte oder Bäckereien, die ihm Brot, Essen schenkten.“

Wie schaffte denn der Jüngling den Fluss mit Kleidung? Otto macht in der Luft einen plötzlichen Schlag. „Ich riss einen dicken Holzbalken aus einem Gartenzaun, band meine Kleidung, das Gebetbuch, den Rosenkranz drauf. Weihnachten wollte ich, nein musste ich unbedingt meine Mutter sehen.“

Also, nach sechs strapaziösen Wanderwochen stand Helmut dann auf Essener Boden. „Am Hauptbahnhof. Der Schock war riesig. Schutt, Trümmer. O Gott, wie finde ich meine Mutter? Wir waren ja ausgebombt. Lebt sie? Durch Zufall erblicke ich nach Minuten eine Freundin meiner Mutter. Sie weiß aber nicht ihre Adresse. Ich bitte sie, falls sie Mama doch trifft, ihr auszurichten, dass ich Familie Triebel, Leiter-/Gerüstbau, Viehofer Straße, besuche.“

Seine Anneliese rutscht auf dem Stuhl hin und her. Sie unterbricht ihn. „Jetzt kommt es! Zehn Minuten später trifft doch tatsächlich diese Freundin die Mutter von Helmut. Am Essener Haupt-Bahnhof. Sie sagt: Dein Sohn ist auf dem Weg nach Triebel.“

Noch nach fast 70 Jahren wühlt ihn die Erinnerung stark auf. Seine Augen werden feucht. Auch seine Frau ist richtig aufgeregt. Sie überschlägt sich beim Sprechen. Immer wieder hat Helmut ihr sein Erlebnis geschildert. Immer wieder vor Weihnachten. „Stellen Sie sich das vor: Nach weiteren 15 Minuten stehen Helmut und seine Mutter sich plötzlich gegenüber. In der total kaputten Stadt. Ist das nicht ein Wunder?“

Wahnsinn. Helmut Otto bestätigt: „Meine Mama arbeitete bei der Post, wollte gerade mit dem Zug nach Werden fahren. Dort wohnte sie möbliert.“ Endlich – wieder daheim bei Mutter! Ausruhen? Nein, Helmut ging schnell auf Arbeitsuche. „Entweder Bergbau oder Landwirtschaft. Da ich aber aus der Landwirtschaft kam, fand ich schnell was beim Bauern in Essen-Überruhr.“

Hier war Helmut quasi Hahn im Korb. „Die Bäuerin verwöhnte mich wie ihr eigenes Kind. Bemutterte mich mit dicken Stullen, Schinken, Wurst, Käse. Sachen, die nach dem Krieg Raritäten waren. Viele litten unsäglichen Hunger. Mit meinen Butterbroten versorgte ich meine Mutter, Oma…“

Seine Glücksfee stand ihm immer zur Seite. Schon früher. „ Als 13-Jähriger musste ich ins KLV-Lager (Kinder-Land-Verschickung). Hier erlernte ich das Krippenfiguren-Sägen. Meine große, stattliche Krippe wurde sogar Weihnachten im KLV-Lager Ledec, Tschechoslowakei, ausgestellt. Leider verbrannt beim Bombenangriff.“
Beruflich ging Helmut Otto stetig, fleißig seinen Weg. So machte er u. a. eine Gärtnerlehre, wurde bei der Stadt Essen angestellt. Arbeitsbereiche waren der Gervinus-Friedhof und Westpark.

Stichpunkt Westpark. „Die Leiterin Scherer vom angrenzenden Schwedenheim sprach mich eines Tages an: „Wir suchen einen Nikolaus.“ Klar, Hansdampf Helmut konnte ihn. Fortan machte der Gärtner den Schwedenheim-Nikolaus über 20 Jahre. Unvergesslich bleibt für ihn ein Satz eines sechs-Jährigen: „Nikolaus, darf ich dich mal drücken. Meine Eltern lassen sich scheiden.“ Er durfte. Auch Nikolaus Helmut drückte den Knirps ganz innig. Er war ein guter Heiliger Mann. Seine Qualität sprach sich schnell rum. Seine eigenen Kinder waren vom Rotbemantelten immer angetan, seine Enkel, die Nachbarn.

Seine quirlige Frau zeigt ein Foto: Nikolaus Helmut. „Ich bin gelernte Schneiderin. Den großen Umhang, die Mitra aus Seide, die Stola – alles habe ich genäht. Den Hirtenstab aus goldenen Kaffeetüten gemacht. Das Spitzenhemd schenkte uns ein Pfarrer. Den Bart fertigte ich“ – kurze Pause - „aus der Perücke der Schwiegermutter, die sie nie getragen hatte!“

Wo ist denn jetzt das Nikolausgewand? „Bei der DLRG – Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft. Der Sohn war dabei und der Enkel…“

Weihnachten 2014 steht vor der Tür. Da passiert bestimmt wieder was Ungewöhnliches bei Helmut Otto…

Autor:

Ingrid Schattberg aus Essen-West

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