Eine Klasse für sich

Heidemarie Kleinöder (Schulleiterin) und Franz-Josef Görgen (Lehrer für Bautechnik und stellvertretender Schulleiter).
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  • Heidemarie Kleinöder (Schulleiterin) und Franz-Josef Görgen (Lehrer für Bautechnik und stellvertretender Schulleiter).
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Das Rheinisch-Westfälische Berufskolleg (RWB) an der Kerckhoffstraße qualifiziert Jugendliche mit Hörbehinderung für Schulabschlüsse und berufliche Ausbildung. Ziel ist die Eingliederung ins „ganz normale“ Arbeitsleben.

„Rh.-Westf. Schule für Hörgeschädigte“ steht auf dem Wegweiser an der Martin-Luther-Straße. Zwei Blocks weiter sieht man ihn schon, den Betonklotz mit knallroten Fenstern. Ein bekanntes Bild im Essener Westen – doch wie ausgefallen diese Schule ist, ist vielen Essenern nicht bewusst.

Bundesweit einmalig

„Wir sind in dieser Organisationsform das einzige Berufskolleg für junge Menschen mit Hörbehinderung in Deutschland“, erklärt Schulleiterin Heidemarie Kleinöder. Das einzige! Kein Wunder, dass etwa 40 Prozent der Studierenden, die hier einen Abschluss oder eine Berufsschulausbildung machen, aus anderen Bundesländern kommen. Oder aus dem deutschsprachigen Ausland. Viele auswärtige RWB-Schüler wohnen in einem der vier vom Diakoniewerk betriebenen Internatshäuser, die der Schule angeschlossen sind.
Die Anfänge dieser besonderen Schule liegen in den 1970er-Jahren. Vor vierzig Jahren beschlossen die Kultusminister, dass in Deutschland erstmals Förderschulen entstehen sollten, die auf die Sekundarstufe II ausgerichtet waren. Für ein Berufskolleg mit dem Förderschwerpunkt „Hören und Kommunikation“ suchte man einen zentralen Standort in der Bonner Republik. Die finanzstarke Industriestadt Essen hatte damals gute Karten. Und bekam den Zuschlag. Seit der Unterricht 1978 aufgenommen wurde, hat die Schule in Frohnhausen guten Zulauf.

Einsatz von Gebärden

Zurzeit besuchen rund 800 Jugendliche das Rheinisch-Westfälische Berufskolleg. Ihre Hörfähigkeit ist ganz unterschiedlich – einige hören ein bisschen, andere gar nichts. Die Verständigung im Unterricht funktioniert über einen gemeinsamen Nenner: den Einsatz von Gebärden. Gebärdenkompetenz zu erwerben ist an der Kerckhoffstraße Pflicht, natürlich auch für die Lehrer. Während 20 Unterrichtende selbst eine Hörbehinderung haben, müssen alle anderen Gebärden lernen. „Ich habe etwa ein Jahr gebraucht“, erinnert sich beispielsweise Franz-Josef Görgen, heute stellvertretender Schulleiter, „bis ich mich in die Gebärdensprache eingefunden hatte.“

Räume ohne störenden Hall

Die Raumausstattung ist für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler ein großes Thema. Hall im Klassenraum ist ein Problem: Gut möglich, dass Nebengeräusche wie Stühlerücken, Schlüsselklappern oder Armreifklingeln im Hörgerät als durchdringender Dauerton ankommen. Das lenkt ab und stört. „Manche bezeichnen das als Körperverletzung“, bemerkt Heidemarie Kleinöder, die die Nöte der Schüler nachvollziehen kann, weil sie selbst auf einem Ohr hochgradig schwerhörig ist.
Was tun? Teppiche in vielen Klassenräumen und Fluren sowie gedämmte Decken sorgen im RWB für Schalldämmung. Standard sind außerdem Sitzordnungen in Hufeisen- oder Kreisform, damit man Mundbild und Gebärden der anderen sehen kann. Verantwortlich für die Raumausstattung ist übrigens nicht die Stadt Essen, sondern der Landschaftsverband Rheinland. Vom LVR fühlt sich das Berufskolleg gut versorgt. „Wir haben das Glück, finanziell gut unterstützt zu werden“, stellt die Rektorin fest. „Der Schulträger gestaltet unsere Räume und Werkstätten so, dass wir den aktuellen Stand der Ausbildung abbilden können.“

Duale Ausbildung: fast 100 Berufe

Stolz ist das Rheinisch-Westfälische Berufskolleg auf die große Bandbreite seiner Bildungsgänge. Zunächst einmal kann man am Kolleg einen Schulabschluss machen. Derzeit sind ca. 65 Prozent der hörgeschädigten Jugendlichen am RWB damit beschäftigt, einen Abschluss der Sekundarstufe I nachzuholen oder einen Abschluss der Sekundarstufe II zu erwerben.
Daneben besuchen ca. 35 Prozent der Schüler Fachklassen der Berufsschule im Rahmen der dualen Ausbildung oder bilden sich beruflich weiter. Unterricht wird in fast 100 Ausbildungsberufen erteilt – vom klassischen Handwerk über den kaufmännischen Bereich bis zur KFZ-Mechatronik. Ab Sommer 2018 wird es auch Bildungsgänge im Gesundheitswesen geben.
Berufstätige können die „virtuelle Fachschule“ des RWB nutzen. Am heimischen PC findet über fünf Jahre hinweg an zwei Abenden Chat-Unterricht und an 20 Samstagen im Jahr Präsenzunterricht statt. „Für Menschen mit Hörbehinderung gäbe es in Deutschland sonst kaum eine Möglichkeit, sich zur staatlich geprüften Betriebswirtin oder zum staatlich geprüften Techniker fortzubilden“, erläutert Heidemarie Kleinöder.

„Schüler besonders motiviert“

Für die Schulleiterin hat das Rheinisch-Westfälische Berufskolleg ein klares Markenzeichen: „Wir qualifizieren auf dem ersten Arbeitsmarkt.“ Die Schule unterstützt die Jugendlichen darin, sich in Standardsituationen zurechtzufinden. So legen die RWB-Absolventen landesweite Prüfungen oder das Zentralabitur ab, ohne dass es Einschränkungen bei den Prüfungsinhalten gibt. Und die Berufsausbildung findet möglichst ganz normal im Betrieb statt – damit die Arbeitgeber die hörgeschädigten Auszubildenden über längere Zeit hinweg kennenlernen.
Einfach ist die Ausgangssituation nicht. In Zeiten, in denen generell immer weniger ausgebildet wird, sind die Vorbehalte gegen Menschen mit Behinderung groß. „Im persönlichen Kontakt zeigt sich aber immer wieder“, freut sich die Schulleiterin, „dass unsere Schüler besonders motiviert sind. Dadurch haben schon viele Zugang zu Beruf und Arbeit bekommen.“

Infos
Rheinisch-Westfälisches Berufskolleg
LVR-Förderschule
Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation
Adresse: Kerckhoffstraße 100, 45144 Essen
Gegründet: 1978
Anzahl Schüler: 800
Anzahl Lehrer: 150
Anzahl pädagogische Mitarbeiter: 1
Schulleiterin: Heidemarie Kleinöder
Website: www.rwb-essen.de

Autor:

Mareike Ahlborn aus Essen-Süd

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