Das gespaltene Dorf

Als es damals hieß, dass die Grenze nicht mehr existiert, da kamen alle von „drüben“, um sich in unserem kleinen oberfränkischen Dorf das „Begrüßungsgeld“ abzuholen. Das Haus meiner Eltern war tagelang mit Besuch gefüllt, denn die Verwandtschaft aus Magdeburg war bei uns zu Gast. Mein Mann und ich setzten uns ins Auto, um meine Cousinen zu sehen. Wir eilten von NRW in meinen Heimatort. Wir hatten uns ja manchmal geschrieben. Ich hatte ja manchmal meine Kleidung zu ihnen gesandt. Doch nun sollten wir uns sehen. Sie saßen auf dem Sofa und aßen bergeweise Ananas mit Schlagsahne. Das war ein Festmahl für sie. Wir können es nicht nachempfinden. Was war doch für uns alles selbstverständlich? Was wir brauchten, das konnten wir doch einfach bei Aldi holen. Nicht so im Jahre der Vereinigung. Durch unser Dorf führt die Bundesstraße 173 und um zu Norma oder zum Arzt zu kommen, muss man die Bundesstraße überqueren. Einfach nicht möglich: Trabbi an Trabbi! Man bekam fast keine Luft mehr wegen der Auspuffabgase. Sollte das nun immer so sein? Unser verschlafenes Dorf im Zonenrandgebiet war mit einem Mal überfüllt und durch die Blechlawine in zwei Hälften gespalten.

Als mein Vati es geschafft hatte mit seiner Mofa zu Aldi zu kommen, da gab es zum ersten Mal im Leben keinen Zucker bei uns. Kein Zucker – nicht vorstellbar – die Weihnachtsbäckerei sollte doch bald beginnen. Mutti war verzweifelt. Fast täglich ging mein Vati einkaufen und mutierte zum Einkaufsweltmeister. Er nahm keinen Einkaufswagen. Er packte seine Sachen in einen Karton. Auf diese Weise schlängelte er sich besser durch. Wenn er an der Warteschlange an der Kasse angekommen war, so sprach er mit diesem und mit jenem, erzählte noch einen Witz und kam auf diese Weise schneller an die Kasse.

„Wissen Sie, was auf dem kleinen Zettel stand, neben dem Loch in der Mauer? Nein? Ich sage es Ihnen: Der letzte macht das Licht aus!“ (Typisch mein Vati!)

Die Verwandtschaft war wieder vereint. Es folgten Besuche von West nach Ost und umgekehrt. Doch nun: Die Geschwister meines Vaters leben nicht mehr! Der übergroße Jubel ist der Alltagsroutine gewichen! Die Cousinen haben sich selbst einen gewissen Lebensstandard erwirtschaftet! Wir könnten uns sehen – doch wir tun es nicht.

Autor:

Heidrun Kelbassa aus Goch

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