Die Folgen der UN-Konvention 24-27 und dem Eingliederungs- und Teilhabegesetz für behinderte Menschen

Systemfehler in der Behindertenarbeit Teil III.

Wie ein Gesetz missbraucht werden kann!!

Anna (Name und Herkunft geändert, Fall trug sich in ähnlicher Form in meinem Bekanntenkreis zu) kam als Kind mit ihren Eltern aus der Ukraine. Mittlerweile war sie Mitte 40, zeigte jedoch einen geistigen Entwicklungsstand eines Kindes und hatte einen steinigen Lebensweg hinter sich. Sie war eine Patientin aus der Forensik (Gerichtspatientin aus der Psychiatrie), die durch Resozialisierungsprogramme soweit gebracht wurde, dass sie in einer betreuten Familienpflege untergebracht werden konnte.

Anna war schmuddelig und sprach dem Alkohol gehörig zu. Zudem bot sie sich und ihren Körper gern für Alkohol und Rauchwaren an. Insbesondere Menschen die sie kannten und die sich im zwielichtigen Milieu tummelten, nahmen die Gelegenheit gerne wahr, ihre Gelüste zu befriedigen. Warnungen vor Missbrauch ihrer Betreuungsfamilie schlug Anna in den Wind. Es war schlichtweg ihr Wille, so zu leben und die betreuende Familie konnte aufgrund des Eingliederungs- und Teilhabegesetzes nach der UN-Konvention 24-27 nichts dagegen tun und musste der fortschreitenden Verwahrlosung kopfschüttelnd zusehen. Insbesondere deshalb, weil Anna ansonsten recht unauffällig war und ihren wenigen Pflichten mehr Schlecht als Recht nachkam. Sie befand sich immer im Grenzbereich dessen, was man der Betreuungsfamilie als nicht zumutbar bezeichnen würde und hatte ein feines Gespür dafür, wann sie zurückziehen musste.

Als Grunderkrankung und Ursache ihres Verhaltens war eine Defekt-Schizophrenie diagnostiziert, wobei sie dringend notwendige Arzneieinnahmen nur dann nachkam, wenn sie Lust dazu hatte. In der Regel war es für die Betreuenden jedes Mal ein Kampf, bis dass sie (wenn überhaupt) den Aufforderungen, ärztlich verordnete Tabletten einzunehmen, folgte.

Auch weitere, ärztliche Untersuchungen, was Vorsorge und Zahnvorsorge betraf, lehnte Anna in der Regel ab. Sie ließ sich von ihren Betreuenden so gut wie nichts sagen und lebte nach dem Motto: „Ich kann selbst bestimmen, wie ich leben will, wann ich zum Arzt gehe und was ich tun und lassen will!“

Alkoholeskapaden und vermuteter Drogenkonsum bei zwielichtigen „Freunden“ mussten die Betreuer ohnmächtig und zur Untätigkeit verdammt mit anschauen, ohne dabei eine Handhabe zu haben, einschreiten zu können. Zumal Anna jenes Gespür hatte, geschickt zu bestreiten und übergeordnete Betreuungsstellen irrezuführen. Teilweise bekam die Betreuungsfamilie sogar Ärger, weil sie sich angeblich zu sehr in das Leben Annas einmischte. Sie wurde von den Behörden ermahnt und belehrt.

Somit wurde der Mensch Anna zusehends immer weniger. Man konnte ihr regelrecht ansehen, wie ihr ohnehin recht zerbrechlicher Körper, immer kärger wurde. Sie kränkelte und schwächelte zunehmend. Bedenken der Betreuenden wurden von den Behörden damit zerstreut, dass immer wieder darauf hingewiesen wurde, dass die Frau ein Recht auf Selbstbestimmung ihres Umfeldes und deren Rahmenbedingungen habe, und solange keine gravierenden Straftaten oder öffentlichen Ärgernisse vorlägen, sei alles gesetzeskonform. Irgendwann gab die Familie auf und nahm die Dinge so, wie sie kamen. Denkansätze in Bezug auf Verantwortung und Fürsorge wurden darum mehr und mehr zurückgedrängt.

Doch dann kam jener Tag, an dem sich die Kripo im Hause der Betreuungsfamilie tummelte: Anna lag tot in ihrem Bett. Man fand sie dort friedlich liegend, ihr Körper hatte schlichtweg aufgehört, seinen Pflichten nachzukommen und sich einfach von selbst abgeschaltet. Der geschwächte Organismus vermochte es nicht mehr, die Torturen wegzustecken. Torturen, durch Alkoholexzesse und gigantischer Nikotinzufuhr hervorgerufen, und die schließlich durch dem Vorenthalten dringend notwendiger Arzneigaben im internistischen und psychischem Bereich, bei gleichzeitigem exzessiven Lebenswandel, die schließlich ihren Tribut forderten.

Was da mit Anna geschah, war nichts anderes, als ein:

sozialverträgliches Frühableben!!!

(Unwort des Jahres 1998)
So wird eine UN-Konvention (meiner Ansicht nach) und ein geschickt falsch ausgelegtes Gesetz dazu benutzt, um kostenverursachende, behinderte Menschen, sozialverträglich frühableben zu lassen. Man hätte ohne Weiteres einschreitend auf den Verfall Annas einschreiten können, zur Not auch gegen ihren Willen!!

Im Grunde haben die gesetzgebenden und gesetzüberwachenden Instanzen die Problemfälle genau dort, wo man sie haben wollte: Ohne, dass es irgendwelche Konsequenzen fordern könnte, dürfen sie problematische, behinderte Menschen zu Tode fressen, saufen rauchen oder man akzeptiert schulterzuckend seine Ablehnung von medizinischer Versorgung. Niemand kann deshalb zur Verantwortung gezogen oder bestraft werden. Sogar eine UN-Konvention steht zudem noch dahinter!!!

Doch lässt man etwa einen 3-jährigen auf dem Standstreifen von Autobahnen spielen nur, weil es sein freier Wille und seine Entscheidung ist?
Man würde ihn doch am Nacken packen und von der Autobahn herunter holen!!
Und mit Feuerwerkskörpern oder gar Dynamitstangen lässt man Kinder auch nicht handhaben!!

Der Mensch hat doch eine Fürsorgepflicht für die ihm anvertrauten Schutzbefohlen!!
Gilt die Fürsorgepflicht etwa nicht für geistig zurückgebliebene oder geistig erkrankte Menschen ...?

Es ist mir wichtig, dass jetzt nicht der Eindruck entsteht, dass ich ein Gegner, dieser UN-Konvention bin; dass dieser Beitrag eine

Laudatio gegen das Eingliederungs- und Teilhabegesetzes ist!

In der Vergangenheit ist sehr viel Missbrauch mit Behinderten betrieben worden. Hier sind weniger die furchtbaren Zeiten der NS-Herrschaft gemeint, sondern die Zeitraume danach, als Behinderte mehr oder weniger als rechtlose Kreaturen verwahrt wurden. Sowohl in Bezug auf Gewalt gegen sie, als auch gegenüber ihrem Eigentum wurde keinerlei Rücksicht genommen. Ihrer Unterbringung und Selbstbestimmung wurde kaum Beachtung geschenkt, denn alle Prozesse liefen zumeist unter dem Prozess der Bevormundung ab. Da sich behinderte Menschen gegenüber jenen „normalen“ Bürgern wenig wehren können, war somit auch eine Blockade eigener Fähigkeiten und Entwicklungsprozessen damit verbunden.

Insofern war es mehr als Dringlich, dass gesetzgebend auf diese Umstände eingewirkt wurde. Umso besser, dass dieser Prozess unter der Obhut einer UN-Konvention geschah, was den Stellenwert der Notwendigkeit umso mehr vertiefte. Nur eines wurde hierbei – meiner Ansicht nach - zu wenig berücksichtigt: Die Konvention wurde – wie mit der Gießkanne – über alle Formen, Arten und Behinderungsgrade übergossen ohne daran zu denken, dass umsetzende Institutionen diese Richtlinien formen, biegen und auslegen können, wie es für sie am praktischsten und kosteneffizientesten ist.

Leider ist es nun mal eine Tatsache, dass auch die Selbstbestimmung eines Individuums zum Einen seine Grenzen hat und zum Anderen gewisse intellektuelle Fähigkeiten voraussetzt. Ist eine Behinderung – insbesondere die geistige – zu ausgeprägt, dann muss der für den Behinderten Verantwortliche schlichtweg intervenieren. Ein Mensch muss selbstständig „abchecken“ können, was gut für ihn ist, und was erhebliche Nachteile für ihn bringen kann.

Während jeder Dreijährige Zwangsmaßnahmen gegen seinen Willen erfahren muss, weil er einfach noch nicht die Reife für elementare Entscheidungen hat, lässt man behinderte Menschen teilweise sehenden Auges in ihr Verderben, (sogar ins Ableben) gleiten!!!

Hier nur einige Beispiele, die ich während meiner langjährigen Arbeit selbst erleben musste oder von denen Kollegen erzählten, und die einem einzig zum Kopfschütteln animieren:
Bei einem geistig behinderter Diabetiker besteht die einzige Fürsorge darin, indem man ihm regelmäßig auf seine Erkrankung und die Folgen von Alkoholexzessen und „Fressorgien“ hinweist. Ansonsten lässt man ihn gewähren, wie er will. Es ist irgendwie logisch, dass dieser Mensch nur eine geringe Lebenserwartung bei diesem Verhalten hat. Insofern ist es geradezu pervers, wenn man nun nach seinem Ableben sagt: Es war des Behinderten Wille ...

Da lässt man einen geistig Behinderten im tiefsten Winter im Schneetreiben in kurzer Hose draußen herumlaufen. Die Tatsache, dass jener Behinderte jung, muskulös und sehr schnell Aggressiv und gewalttätig werden kann, mochte dazu beigetragen haben, das man ihn so laufen ließ mit der Begründung: Es war des Behinderten Wille ...

Unsinnige Handlungsweisen müssen geduldet werden. So beantragte ein Pärchen in der Verwaltung eines Heimes einen Geldbetrag für eine Anrichte in ihrem Zimmer. Der Betrag wurde bewilligt und ein niegelnagelneues Schränkchen wurde gekauft. Schon am nächsten Tag hatte das Pärchen die Rückwand des Schrankes gewaltsam herausgehauen und die vorderen Türen entfernt, um beide Seien mit einem angenagelten Drahtgeflecht zu versehen: Die beiden hatten den Schrank als Kaninchenstall umfunktioniert, um den beiden Schlappohren der Frau ein neues Zuhause zu schaffen. Es war des Behinderten Wille ...

Da hat in einem Wohnverbund ein Behinderter sein eigenes Zimmer. Was eigentlich als Wohn- und Schlafdomizil gedacht scheint, ist eine einzige Müllkippe! Das Zimmer spottet jeder Beschreibung und ist nur noch ein stinkendes Loch, das von Unrat und Ungeziefer durchwirkt ist, obwohl dieser Wohnverbund rund um die Uhr von Betreuungspersonal frequentiert wird. Es war des Behinderten Wille ...

Da gibt es Heimbewohner, die sich kaum noch oder ganz und gar nicht waschen. Kleiderläuse, Krätze, Ekzeme und Hautkrankheiten aller Art musste ich in meiner 40-jährigen Tätigkeit in Psychiatrie und Behindertenbereichen immer wieder mit anschauen. Zu hören bekommt man dann von den Kollegen/Innen: Es war des Behinderten Wille ...

Es ist eine nicht unerhebliche Anzahl von behinderten Menschen, die ich habe verwahrlosen sehen. Dabei geht es einem außerordentlich gegen den Strich, dass man fortwährend ohnmächtig zusehen muss, ohne etwas dagegen ausrichten zu können!!

Das Personal lässt sie alle laufen. Und das ist vollends verständlich, wenn man die aktuellen Zustände selbst miterleben durfte. Zum Einen weil sie Angst vor den Konflikt mit den zumeist sehr schwierigen Behinderten haben und zum Anderen, weil sie alle verunsichert sind. Im Grunde wird der normale und logische Menschenverstand dadurch ausgehebelt, indem sie von den Führungsebenen immer wieder über die autonome Selbstbestimmung behinderter Menschen belehrt werden.

Das Betreuungspersonal resigniert letztendlich ...
Es fühlt sich vom System und deren leitenden Personen alleingelassen, die sich nach ihren Belehrungsprozessen wieder schnell in ihr Büro zurückziehen, nur schnell weg vom Behinderten und keinesfalls das, was sie belehren in irgendeiner Form zeigen oder vorleben müssen.

Es ist ein Problem, dass man Vertreter der Führungsebenen nie in konsequenter Nähe von behinderten Menschen antrifft. Noch nie habe ich in den vielen Jahren eine Führungsperson erlebt, die längere Zeit ganz nahe über längere Zeit bei schwierigen Behinderten verweilt hat. Und noch nie habe ich erlebt, dass ein Vertreter der Führungsebenen als Vorreiter und Orientierungsmaßstab seiner Untergebenen sich einem schwierigen Behinderten und den daraus resultierenden Konflikten stellt. Er ist ruck-zuck wieder weg vom Schauplatz! Das fängt schon in der untersten Stufe der Führungsebenen an und setzt sich entsprechend fort. Und wer sich ausschließlich in seinem Büro oder im Besprechungsraum tummelt, kann über die Problematiken nie und nimmer urteilen, allenfalls klugscheißern!!

Fakt ist: Wenn man einem „normalen“ Menschen, der im vollen Umfang intellektuell ausgebildet ist, auf alle Risiken seines Handelns hinweist, und dieser frisst, säuft oder raucht sich trotz allem zu Tode, oder er betreibt mit seinem Eigentum Schindluder, so ist das wirklich seine Sache und sein freier Wille gewesen.
Bei einem behinderten Menschen fehlt diese Gabe des Einschätzens in der Regel jedoch, ähnlich, wie bei einem 3-jährigen Kind. Insofern greift in diesem Fall, meiner Ansicht nach, jene beschriebene Fürsorgepflicht.

Abschließen sei noch angemerkt, dass jenes beschrieben Gesetz und jene Konventionen ein sehr wichtiges Element in Bezug auf die Autonomie und der freien Entfaltung von behinderten Menschen darstellen. In früheren Zeiten waren behinderte Menschen in der Regel rechtlos, wurden gedemütigt und konnten kaum eigen Entscheidungen über sich und ihre Bedürfnisse treffen.

Deshalb ist das Gesetz an sich eine ausgezeichnete, und dringend notwendige Sache gewesen!

Doch die Umsetzung wird vielerorts in für mich keinesfalls gesetzeskonformen Maßnahmen getroffen, wobei man Menschen sehenden Auges in den Tod treiben lässt, um Kostenoptimierung zu erzielen.

Und bedenkt man hierbei, wie viele tausende behinderte Menschen durch diese Vorgänge wegsterben, dann sind die Summen, die Staat, Länder und Gemeinden hierdurch einsparen erheblich.

Im Grunde ist unsere Gesellschaft mit der Umsetzung jene Verordnungen, Gesetze und Konventionen überfordert. Heuchelei von Führungsebenen und dem Ausweichen behinderter Menschen bei gleichzeitiger Heuchelei über das „sich darum kümmern“ und dem wirklichen Vermeiden von Nähe zu ihnen führen letztendlich zu dem Umstand, dass wirkliche, intensive Kontakte und Nähe in der Regel nur von denen erfolgen, die entweder idealistisch geprägt sind oder in der gesellschaftlichen und heiminternen „Hackordnung“ im unteren Bereich zu finden sind. Das Drückebergertum ist ein Attribut der Führungsebenen im Behindertenbereich ...

Um die Zusammenhänge der hier aufgeführten Situationen anschaulicher verstehen zu können, siehe auch:

http://www.lokalkompass.de/goch/politik/systemfehler-in-der-behindertenarbeit-d77793.html

http://www.lokalkompass.de/goch/politik/systemfehler-in-der-behindertenarbeit-teil-ii-d250403.html

Foto: Albrecht E. Arnold, Pixelio

Autor:

Kurt Nickel aus Goch

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