Systemfehler in der Behindertenarbeit

22. Juli 2011
NRW, Goch

Über das Drückebergertum im Umgang mit behinderten Menschen
Die Arbeit mit behinderten Menschen erfordert eine Menge Aufwand an Eigeninitiative und Einstellung gegenüber jenen, die man betreut. Nun sind in der Vielzahl von Betreuungseinrichtungen Hierarchien gewachsen, die oftmals so strukturiert sind, dass in den Führungsebenen diesen Menschen eher ausgewichen, als das Nähe vorgelebt wird.

Um diesen Beitrag anschaulich darzustellen, bedarf es eine gewisse Vorlaufphase, um ihn allgemein verständlich wiederzugeben. Einführend möchte ich damit beginnen, dass ich vor einiger Zeit ein längeres und sehr ergiebiges Gespräch mit dem Leiter eines Heilpädagogischen Heimes hatte. Er selbst berichtete, dass er in seiner Arbeit mit behinderten Menschen alle erdenklichen Stressphasen und unangenehme Situationen selbst durchleben musste, bis er zu seiner leitenden Position eines Heimes kam. Insofern war dort jemand, der wusste, wovon er sprach, weil er alles das selbst erlebt hatte, was er nun von seinem Personal abverlangt.
Ein leitender Angestellter, der selbst einmal derartige Stressphasen meistern musste weiß, was für eine Belastung an der Basis der Behindertenbetreuung oftmals gefordert wird.
Jemand jedoch, der einzig durch Ausweichen solcher Situationen trotzdem eine leitende Funktion bekommt, wird immer weltfremd bleiben und gar nicht wissen können, was das Personal leisten muss! Doch leider ist es in den Einrichtungen so, dass frisch Studierte sogleich in die Führungsebene eingegliedert werden und somit recht wenig der wirklichen Arbeit am behinderten Menschen ausgesetzt sind. Allenfalls als Begleitung um sich das anzuschauen, jedoch nie in allen Formen der Belastungen, die damit verbunden sind. Somit stellt sich die Frage wo das Verständnis für diese Arbeit denn herkommen soll...?

Die Strukturellen Absurditäten in der Behindertenarbeit

Der Stellenwert der Arbeit mit Behinderten und die Nähe zu ihnen werden allgemein in den Kreisen der Führungsebenen als „Niedere Tätigkeit“ eingeordnet. Zwar wird das nie unum-wunden zugegeben, aber die Fakten sprechen dafür. Siehe: http://www.lokalkompass.de/goch/leute/ueber-das-angenehme-gefuehl-mit-behinderten-menschen-zusammen-zu-sein-d4067.html
So ist es offensichtlich, dass in der Behindertenarbeit und die hierfür alles umfassenden Tätigkeiten die Nähe zu Behinderten dadurch ausgewichen wird, indem die „Pöstchen“ bei denen man mit behinderten Menschen so wenig wie möglich zu tun hat, die begehrtesten sind. Insbesondere in der mittleren Führungsebene sowie bei den Tätigkeiten, die ich mal mit „Sonderaufgaben“ beschreiben will. Hiermit ist z.B. Sicherheitsbeauftragter, Hygienebeauf-tragter, Personalrattätigkeiten (und was es sonst noch so alles gibt) gemeint. Bei diesen Tätigkeiten können sämtliche Situationen, die den Stress mit der unmittelbaren Nähe zu Behinderten hervorrufen, weitgehendst aus dem Weg gegangen werden. Das heuchlerische dabei ist, dass wirklich niemand von ihnen zugibt, dass sie froh sind, mit den Behinderten Menschen wenig zu tun zu haben. Im Grunde sind es die ideellen Rahmenbedingungen:
- Man ist wichtig.
- Kann an möglichst vielen Besprechungen teilnehmen und sich damit
überall dort rausziehen, wo Arbeit anfällt.
- Oftmals hat man dann noch ein eigenes Büro, worin man sich zurück-
ziehen kann und somit Kontrollvorgängen ausweicht.
- Häufig kommen noch Privilegien hinzu wie Bewirtungen bei Besprechun-
gen, Repräsentative Tätigkeiten, in denen man die Arbeit präsentieren
kann, die Andere ausführten.
- Relative Freiheit, was die Einteilung der Arbeit betrifft.
- Keine unmittelbare Vorgesetzten, denen man fortlaufend Rechenschaft
ablegen muss.
Es sei hier angemerkt, dass man das nicht generalisieren kann. Sowohl in der mittleren und höheren Führungsebene gibt es Kollegen/Innen, die vorbildlich agieren und die Nähe zu behinderten Menschen suchen, auch wenn gerade kein Publikum vorhanden ist. Doch dies ist wirklich nur die Ausnahme, keinesfalls die Regel und Einstellung- und Charaktersache des Einzelnen. Nachteile, wenn das nicht der Fall ist, hat keiner in diesem Apparat zu befürchten, da der Bemessungsmaßstab einzig in Repräsentationen, Bilanzen und Kennzahlen gewertet wird.

Im Jahre 2014 werde ich 40 Dienstjahre im öffentlichen Dienst absolviert haben. In diesem Zeitraum habe ich schöne und schlechte Zeiten erlebt. Doch was ich daraus unterm Strich schließen kann, ist folgendes:
Unter dem Aspekt des Wohlfühlens, der Position und finanziell hat es sich nie gelohnt, sich für behinderte Menschen einzusetzen.
Ich fühlte mich sehr oft allein gelassen und fragte mich häufig, was man eigentlich davon hat, wenn man nett zu den Behinderten Menschen ist, sich für sie einsetzt und ihnen ein gutes Gefühl vermittelt. Gut ging es eigentlich nur den Kollegen, die es verstanden haben, sich von Behinderten fern zu halten. Sie hatten kaum Stress und hatten zumeist auch höhere Einkünfte.
Einzig die Tatsache, dass man mit sich selbst im Einklang ist und die Nähe und das, was man von den behinderten Menschen zurückbekommt, was Dankbarkeit betrifft, hat eine relative Zufriedenheit gebracht, die dann oftmals von Vorgesetzten durch Belehrungsprozesse oder nicht angebrachte Kritiken wieder zunichte gemacht wurde. Geradezu entwürdigend empfand ich es oft, dass gerade jene, die kaum Stress haben und ihr „Pöstchen“ in trockenen Tüchern hatten, zumeist diese Belehrungsprozesse durchführten. Siehe dazu auch folgenden Beitrag: http://www.lokalkompass.de/goch/politik/wie-eine-institution-das-personal-demotivieren-kann-d6057.html .

Die Folge war zumeist ein Verlust an Motivation und eine Anpassung an diese Prozesse, indem man dahin kanalisiert wurde, später genauso zu werden oder für sich selbst Wege fand, das Bestmögliche aus dem Prozess zu machen und auf eigener Art und Weise in dem System seinen Platz zu finden, wo möglichst wenig Energie aufgewendet werden muss um klar zu kommen. Als ich selbst in einer leitenden Position war stellte ich fest, dass bei allen Mitarbeitern wohl (eigenes Empfinden) 80% der Energie in der Behindertenarbeit dafür verbraucht wird um zu klagen und Mittel und Wege zur Selbstdarstellung gesucht wird. Allenfalls 20% wird für die eigentliche Behindertenarbeit genutzt. In allen Nischen finden sie sich und philo-sophieren über ihre Arbeit, wobei die behinderten Menschen nach ihrer Grundversorgung oftmals dann abseits verwahrt werden.

Im Grunde sind es endlose Phasen der Langeweile und Unterforderung, mit denen man zurechtkommen muss, wobei paradoxerweise Stress ohne Ende anfällt und zwar auf allen Ebenen der Organisation. Alle Seiten sind damit beschäftigt, ihre Daseinsberechtigung durch Gespräche zwischen Tür und Angel oder im offiziellen Rahmen in Konferenzen zu untermauern. Die Behinderten selbst sind schlichtweg eine durch Kennzahlen bezeichnete Gruppe, die mit allen erdenklichen Formen der (Über)-Dokumentation erfasst werden. Dabei macht es das System und das Verlangen von Kostenträger derart kompliziert und verworren, dass im Grunde kaum jemand noch den Durchblick hat. Natürlich wird das niemand zugeben, da es als Schwäche gedeutet werden könnte. Aber Fakt ist, dass der größte Teil aller Energien für Selbstdarstellungsprozesse draufgeht, ob man das zugeben mag oder nicht...

Ansätze von Lösungsvorschlägen die diesen Zuständen entgegenwirken könnten und den eigentlichen Verbesserungsvorschlag darstellen:

Das System stimmt nicht!!
Und zwar insofern, dass die Nähe zu behinderten Menschen in keinster Weise honoriert wird. Je weiter sich ein MA vom Behinderten entfern, umso höhere Position und Einkünfte hat er. Es gibt keinerlei Planstellen, die hochdotiert sind und mit unmittelbarer Nähe zu behinderten Menschen in allen Formen der unangenehmen Arbeiten im Einklang sind!

Dotierung und Ansehen müsste mit der Nähe zu Behinderten im Einklang sein!!
Es sollte zur Normalität gehören, dass auch unangenehme Tätigkeiten von Führungskräften vorgelebt werden. Führungskräfte sollten nicht grundsätzlich nur dort zu finden sein, wo es am ruhigsten ist (z.B. in ihrem Büro) und Behindertenarbeit nicht stattfindet! Man kann natürlich nicht verlangen, dass es Freude bereiten soll, eingekotete oder mit Erbrochenem behaftete Behinderte zu säubern; man kann aber wohl verlangen, dass Dienst-stellenleiter es nicht als Majestätsbeleidigung darstellen, wenn sie mal mithelfen müssten.
Es gibt da eine Ministerpräsidentin, die sich nicht zu fein ist, dem Volk zu zeigen, dass es für sie selbstverständlich ist, dass sie sich für keinerlei Arbeit zu schade ist und praktiziert das in regelmäßigen Abständen überall dort, wo Arbeit anfällt. Dies mag in erster Linie zwar eine PR-Aktion sein, jedoch geht es sich hier um die gezeigte Einstellung und das Bemühen, der Gesellschaft vorzuleben, dass es keine Schande ist, sich die Hände schmutzig zu machen!!

Die Einstellung zur Arbeit und zu behinderten Menschen muss im Einklang sein!!
Im Grunde weiß doch jeder, welcher Mitarbeiter im Team welche Vorzüge hat, auf wem man sich verlassen kann und wer von ihnen weniger brauchbar oder gar völlig unbrauchbar ist. Und das gilt praktisch für alle Ebenen. Auch von denen aus der Führungsebene oder anderen Ebenen könnte ich ohne Weiteres Wertungen vornehmen, was von vorbildlich bis hin zum Drückebergertum geht. Aus Rücksichtnahme, Angst vor eigenes kritisiert werden oder sonst was traut sich kaum jemand, offen darüber zu reden. Dies geht teilweise sogar dahin, dass Hohn und Spott über einen niedergeht, wenn er unangenehme Arbeiten verrichtet. Insofern liegt es an der Einrichtung selbst, wenn sie solche unbrauchbare Leute nicht aussortiert, sondern ihre Existenz geradezu fördert. Im Grunde ist es traurig, dass man insbesondere die Führungsebene darauf hinweisen muss: Es ist keine niedere Arbeit, sich mit behinderten Menschen zu befassen!! Sofern der Drang besteht leiten zu wollen, dann muss man auch in Kauf nehmen, mit Behinderten konfrontiert zu werden.
Es mag wohl fast zwei Jahrzehnte zurückliegen, dass der seinerzeitige Heimleiter erkannt hatte, dass in unserem Heim dadurch recht unrational gearbeitet wird, weil zu viele Mitarbeiter/Innen mit Aufgaben beschäftigt sind, bei denen sie von den Einkünften her zu hoch und von der Arbeitsleistung zu wenig gefordert werden. Also ließ er verlauten, dass ab sofort alle MA des sozialen Dienstes mit im Gruppendienst bei der Grundversorgung von behinderten Menschen eingesetzt werden sollten. Das hieß nichts anderes, als dass ihnen ab sofort sämtliche Stressphasen der unmittelbaren Nähe zu Behinderten bevorstehen würden. Sie mussten also ab sofort richtig arbeiten! Die darauffolgende Panik bei dieser Gruppe war derart, dass eine Vielzahl von ihnen sofort kündigte...

Die Arbeit mit behinderten Menschen muss Spaß machen!!
In meiner langjährigen Arbeit habe ich immer wieder erlebt: Wenn ein Mitarbeiter wirklich Freude an seiner Arbeit hat, erscheint er fast verdächtig. „Dem geht es wohl zu gut!!“ Da sein Spaß offensichtlich ist, gibt es dann genug Vorgesetzte, die Lust dabei empfinden, ihm diesen Spaß zu verderben, ihm die Arbeit nehmen oder derart erschweren, dass die Arbeit nun keinen Spaß mehr machen kann! Irgendwie ist es in diesem System immer wieder zu erleben, dass sich welche dann erst gut fühlen, wenn es ihnen gelungen ist, dass der andere sich schlecht fühlt.
Die Nähe und der persönliche Einsatz zu behinderten Menschen sollten nicht mit Nachteilen verbunden sein. Mit Nachteilen meine ich hier, dass sich der MA schlecht fühlt und das Ge-fühl hat, „niedere Arbeiten“ zu verrichten, weil es von höherer Stelle vorgelebt wird, dass so etwas nichts für die in der „Hackordnung“ höhere Klasse ist, da sie dem Ansehen schadet.
Das soll jedoch nicht heißen, dass das „Spaß haben“ so zu verstehen ist, dass ein Paradies für Mitarbeiter geschaffen sollte, in dem sie machen können, was sie wollen; sondern so, dass eine bestehende, intrinsische Motivation nicht durch selbstherrliche Vorgesetzte genommen wird.

Die Reduzierung der Vielzahl von Besprechungen und Planungen auf ein gesundes Maß!!
Egal, wo man in den Einrichtungen hinschaut: Überall sind Versammlungen und Besprechungen im größeren oder auch im kleinsten Kreis. Würde nur ein Bruchteil der Energie hiervon zur Betreuung von der Klientel verwendet, würden fast paradiesische Zustände herrschen. Im Grunde ist vor lauter Planungsvorgängen die eigentliche Arbeit am Behinderten blockiert. Nach den Prozessen der Grundversorgung sitzen diese zumeist etwas abseits und werden eher beiläufig wahrgenommen. Abgesehen von der Intensivförderung wird sich dann jenen, deren Behinderungsgrad gravierender ist, weniger zugewandt, als jenen, die lauthals auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen können.

Sinnvolle Verteilung von Arbeiten, Trennung von Sinnvollem und Unsinni-gem!!
Leitende Angestellte erstellen Statistiken und Listen, die ohne Weiteres 1-Euro-Kräfte erstellen könnten. Für mich ist die Arbeit am Behinderten „Wertarbeit“, während verwaltungstechnische Aufgaben, wie das Erstellen von Listen nicht der Qualifikation entsprechend derer sind, die sie durchführen. Doch man kann sich hinter Verwaltungsaufgaben wunderbar verstecken. Es ist „wichtige“ Tätigkeit, man hat zu tun, die Arbeitszeit geht um und unangenehmere Tätigkeiten verrichten Andere.

Abschließend möchte ich folgendes anmerken: Man kann Einstellung und Zuwendung zu behinderten Menschen sicherlich nicht anordnen. Doch man kann Anreize schaffen. Anreize, die die Nähe zu Behinderten unterstützen. Sei es in der Position oder auch mit der damit verbundenen Dotierung oder Zulagen. Zumindest der Wohlfühlfaktor des Betreuungspersonals könnte gefördert werden und nicht durch antagonistisches Verhalten gedrückt werden. Insofern sollte die Personalpolitik und die hiermit verbundenen Rahmenbedingungen überarbeitet werden, um die Prozesse dahin zu kanalisieren, wie es in diesem Beitrag angedacht ist.

Leute, die unter dem Aspekt der Selbstüberschätzung für etwas Besonderes halten und sich dadurch für gewisse Arbeiten zu fein sind, haben im Behindertenbereich einfach nichts zu suchen!

Wenn sich in diesem Beitrag jemand wieder finden sollte, möge er, anstatt sich angegriffen zu fühlen, besser an der Modifizierung des Systems beteiligen, was letztendlich nur zum Vorteil der Behinderten führt. Im Grunde waren es schlicht legitime Anpassungsprozesse an das System, was man keinem vorwerfen kann...

Foto: Albrecht E. Arnold, Pixelio

Autor:

Kurt Nickel aus Goch

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