TAGESAUSFLUG MIT DER AWO – EINE ALTERSFRAGE? Betrachtung eines Mittvierzigers.

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Es sind nur noch knapp 1100 Tage bis zu meinem 50. Geburtstag und meine Ärztin vollführte erstmals eine Prostata-Untersuchung bei mir (mit ohne Befund). Es sind eindeutige Hinweise, dass ich langsam „ins Alter komme“! Gesundheitlich habe ich mich zwar schon mal schlechter gefühlt und auch die bereits erwähnte Frau Doktor ist mit den Werten, die sich aus meinen Körperflüssigkeiten ziehen lassen, durchaus zufrieden.
Sang ich jedoch vor 20 Jahren noch mitleidig lächelnd beim PUR-Klassiker „Ein graues Haar“ mit, so bin ich zwischenzeitlich froh, wenn die Haare schneller grau werden als auszufallen. Selbstverständlich hätte ich damals nicht zugegeben, dass ich PUR höre – und mitsingen kann. In den Sozialen-Medien befreunden sich zunehmend die Weggefährten meiner Tochter mit mir (wohl eher aus Mitleid?) und ich bekomme von einigen meiner unzähligen Facebook-Freunden den Hinweis, dass ich mal in meinen Personalausweis schauen solle. Auch an mir sei der Alterungsprozess nicht spurlos vorbeigegangen. Natürlich sehe ich das prinzipiell anders – wenn nicht gerade ein Spiegel in der Nähe ist!

Wie geht man damit um, dass man älter wird? Franz Beckenbauer hat in meinem jetzigen Alter bereits versonnen den Elfmeterraum vom römischen Stadion durchschritten, nachdem er seine Jungspunde zum Weltmeistertitel geführt hatte. Barack Obama war nur wenige Monate älter, als er zum 44. amerikanischen Präsidenten gewählt worden war. Um es mit dem Ruhrgebietsbarden Stefan Stoppok zu sagen: „ich bin irgendwo zwischen Twentours und Seniorenpass“ – allerdings schon wesentlich näher am Seniorenpass.

Lange Rede – kurzer Sinn: um sich wirklich mit dem Älterwerden zu beschäftigen, muss man sich mit den entsprechenden Fachleuten beschäftigen. Den Silversurfern, den Rentnern, den Witwen und Witwern, den Gehbeschwerten, den Lebenslustigen, den Meckernden, den Dankbaren, den Pensionären, den Erbverprassern, den Alten, den Best-Agern, den Rüstigen, den Omas und Opas, den Mitgliedern der Generation 60plus, den weißen Jahrgängen, den Uwe-Seeler-Kennern und Bata-Ilic-Applaudierern.
Vorgestern hatte ich sie alle beisammen. 25 von ihnen nahmen mich in ihre Mitte – ich war akzeptiertes Mitglied einer AWO-Fahrt vom Rande des Ruhrgebietes zu den Weiten des Münsterlandes und der Soester Börde.

Noch einmal muss ich auf meine Ärztin zu sprechen kommen: sie ist, nicht ganz unberechtigt, der Meinung, dass mir mal mehr Bewegung gut tun würde. Einige Spaziergänge könnten helfen, wenn der innere Schweinehund nicht in die überbezahlte Muckibude möchte. Macht man einen Tagesauflug mit unternehmungslustigen Senioren ist aber augenscheinlich die weiteste fußläufige Wegstrecke vom Sitzplatz im geräumigen Reisebus bis zur nächsten Toilette im nahegelegen Kurhaus.

Die Abfahrt zu der „Fahrt ins Blaue“ soll pünktlich um 09:00 Uhr in der Früh starten. Das die unkonfessionelle Arbeiterwohlfahrt ausgerechnet an der Kirche im Stadtteil auf die Mitfahrer wartet, ist wohl nur der dortigen reisebusfreundlichen Parksituation zu verdanken. Mein Mobiltelefon klingelt bereits um 08:55 Uhr – man wartet auf mich und meinen (noch wesentlich jüngeren) Kompagnon. Über zwei Dutzend Senioren haben schon im Bus Platz genommen und warten nur noch auf den Nachwuchs, der mit dem Kauf vom neumodischen Coffee-to-go fast die Abfahrtzeit ausgehebelt hätte. Kaum sitzen wir, startet der Fahrer in Richtung Autobahn. Voller Vertrauen hat jedes Mitglied der Reisegesellschaft im Vorfeld seinen Obolus bezahlt – das Ziel der Busfahrt ist aber nur wenigen Planern bekannt. Senioren vertrauen wohl einfach auf einen genüsslichen Tag.

Der Fahrer hat noch nicht einmal die Autobahn erreicht, da wird man vom Hauptorganisator und Ortsvereinsvorsitzenden über das Bordmikrofon begrüßt und wenige Momente später wird der gleiche Kommunikationsweg gewählt, um die erste humorige Kurzgeschichte vorzulesen. Meine Augen gehen von Sitzreihe zu Sitzreihe – eine Gitarre und ausreichende Exemplare der guten, alten MUNDORGEL kann ich glücklicherweise nicht entdecken. Es bleibt bei anzüglichen Witzchen und Gedichten, die man in meiner Generation nur noch von ausufernden Kleinkunstbeiträgen bei Familienfeiern kennt.
Trotz mehrerer kleinerer Stausituationen auf dem Weg „ins Grüne“ (liebe Historiker, wann fährt man ins Blaue und wann ins Grüne?) öffnen sich die beiden vollautomatischen Bustüren schon nach knapp 70 Minuten – am ersten Zielort in WaLibo. Nur vom Wortklang hört es sich nach dem Nachbarort von Malibu an. In Wirklichkeit ist es das lippische Bad Waldliesborn – ein Ort der bekannt ist für seine Rehazentren nach koronaren Erkrankungen. Bei unserer Ankunft treffen wir aber nur auf ein paar wenige Grünflächenbewässerer. Die Kurgäste haben anscheinend um diese Uhrzeit Anwendungen, bevor es zum Mittagessen an die Salatbar geht.

Meine Reisegruppe hat ungefähr 15 Minuten Zeit um den Bus zu verlassen, die Toiletten im Kurhaus aufzusuchen und sich die Zeit bis zur ersten Attraktion vor Ort mit einem Pinchen „Aufgesetzten“ zu vertreiben. Wenigpinkler schaffen sogar, bei bestem Sonnenschein am Morgen, bereits zwei oder gar drei alkoholgetränkte Schlehenextrakte.
Neben dem Reisebus taucht der Reiseleiter mit dem nächsten Reisegefährt auf – im Walibo-Express gibt es ausreichend Sitzgelegenheiten für fast 30 Menschen aus meiner Heimatstadt. Die Bimmelbahn scheint vormals in Dänemark gefahren zu sein. Nur der Hinweis, dass man während der Fahrt bitte nicht aufstehen möge, steht auf Deutsch geschrieben. Bei dem Geschaukel, dem man in der vorletzten Reihe ausgesetzt ist, würde ein unkontrolliertes Aufstehen wahrscheinlich einen Oberschenkelhalsbruch nach sich ziehen. Diese Diagnose würde wohl für jede mitfahrende Generation gelten und ist somit kein Alleinstellungsmerkmal für das fortgeschrittene Lebensalter. Hieraus resultiert zwangsläufig die Frage, ob die meisten Verletzungen im Walibo-Express bei Seniorentouren oder Junggesellenabschieden entstehen.
Mit einem Zwischenhalt an der Apotheke (!?) ging es fast direkt zum Ausfluglokal ins noch-lippischere Umland. Wie können die Menschen, die sich teilweise nur mit Krückstock oder Rollator bewegen können, solch eine rumpelnde halbe Stunde schmerzfrei überstehen? Oder ist es ein wohltuender Konterschmerz, der mal von den traditionellen Beschwerden wohlwollend abhebt. Klagen hörte man aber vor dem gastronomischen Familienbetrieb nicht, bei dem die motorgezogene Bahn anhielt. Im Garten hinter dem Haus war der Tisch bereits eingedeckt. Geradezu südländisch-familiär mutete die Runde an, die sich an Sülze oder Schnitzel stärkte. Der Haselnussbaum gab dabei wohligen Schatten. Für die reisende Bevölkerung aus dem Randgebiet des Ruhrpotts war das pure Erholung. Wenn es heißt, dass man sich nach dem Mittagessen etwas die Beine vertreten soll, so macht man das in einer gewissen Altersklasse mit dem nächsten Toilettengang und dem direkt anschließenden Weg zum nächsten Transportmittel. In diesem Fall wieder der Walibo-Express, der die Tagesreisegruppe zurück nach Boomtown Bad Waldliesborn brachte, wo die Kurgäste anscheinend von der Anwendung zur Mittagsruhe gewechselt waren.
Durch die Menschenleere im Ortszentrum hatte die AWO-Gruppe einen Parkpavillion für sich alleine – hier entstand das obligatorische Gruppenfoto, welches als Erinnerung demnächst auf dem ein oder anderen Wohnzimmertisch steht und in der Begegnungsstätte einen Ehrenerinnerungsplatz erhalten wird.
Fototermine sind anstrengend und die Müdigkeit der, nicht zu entdeckenden, Kurgäste breitet sich auf fast jedes einzelne Mitglied der Reisegruppe aus. Gut, dass man nach wenigen Metern Fußweg wieder im Reisebus (der Große mit den bequemen Sitzen) Platz nehmen kann (übrigens ist es keine Frage, dass jede/r den Platz von der morgendlichen Sitzordnung wieder einnehmen wird).
Die kommenden 30 Minuten Busfahrt an die Soester Börde, bzw. zum zweiten Zielort, sind zu knapp, um mit unkontrollierten Speichelfluss und durchdringenden Rachenzäpfchenschlaggeräuschen unangenehm im Bus aufzufallen. Speichelfäden sähen auch doof auf den blauen Sitzpolstern im Reisebus aus. Also halten sich alle Mitreisenden aufrecht, egal, ob sie gerade Mitte 20 oder Anfang 90 sind. Die angenehme Zeitvertreibung der letzten Stunden ist ein Ansporn, sich auch noch auf einen weiteren, aber weitaus belebteren, Kurort einzulassen. Nächster Halt: Bad Sassendorf.

Vielleicht siegt die Müdigkeit doch – oder die Hitze im Spätsommer fordert Tribut. Nach wenigen Schritten in der Thermalstadt kehrt zumindest 2/3 der rüstigen Rentnerschaft und ihrer Nachwuchskräfte in die ortsansässige Eisdiele. Sozusagen von Bad Sassendorf nach Venezia mit nur einem Schritt. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein entscheidender Schritt für den Genuss der italienischen Momente. Das verbleibende Drittel der Bäderfahrt-Delegation nutzt die Zeit für einen Bummel durch das Städtchen und beweist, dass man an jedem Ort der Welt eine Handtasche kaufen kann. Somit habe ich wieder etwas gelernt: die Ausschüttung von Glückshormonen beim Kauf von schönen Dingen ist keine Altersfrage.
Einem Eisbecher und zwei Espressi später geht es wieder zum Bus. Dank moderner Verkehrsführungsprogrammen geht der Heimweg weniger über die Autobahn, sondern quer durch die grüne Landschaft der Nachbarkommune. Im Bus werden die Gespräche zwischen Dankbarkeit zu dem schönen Tag und ausschweifender gesellschaftspolitischer Themen fortgesetzt. Mit Mitte 40 und einem kommunalpolitischen Amt bewundere ich den Genossen in der Reihe vor mir, der mit der doppelten Anzahl an Lebensjahren der weitaus bessere Vertreter der gelebten Sozialdemokratie ist. Sollte ich mal einen Posten in der hochbezahlten Politik anstreben, wird der Herr mein Wahlkampfleiter.

Nach 9 Stunden sonniger Unterhaltung hält der Reisebus wieder in der Nähe der heimischen Kirche. 27 beseelte Fahrgäste steigen aus, bedanken sich beim sympathischen Kutscher und verabschieden sich voneinander. Mit dem noch jüngeren Kompagnon gehe ich zum Auto und wir lassen den Tag Revue passieren – voller Dankbarkeit, mit wundervollen Menschen vergnügliche Stunden verbracht zu haben, ziehen wir folgendes Fazit. Das Alter kann kommen – scheint ja ganz nette Seiten zu haben. Viel wichtiger ist aber noch, dass man auch schon in jüngeren Jahren mal solch einen Ausflug mitmachen kann. Mein Kompagnon und ich schauen bereits, wo es als Nächstes hingeht!

Der Tagesausflug fand am 08. September 2016 statt.

Autor:

Benjamin Noga aus Hagen

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