Die Verwöhngemeinschaft

Betreuerin Jagoda mit Bewohner Oswald: In der Seniorengemeinschaft Braatz empfinden sich Bewohner und Betreuer als Familie. | Foto: Braatz
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Einen alten Baum verpflanzt man nicht, heißt es im Volksmund. Und so ist es immer auch für betagte Menschen ein empfindlicher Einschnitt ins Leben, wenn sie ihre eigenen vier Wände verlassen müssen, weil sie ihren Alltag darin nicht mehr selbst bewältigen können. Standardisierte Tagesabläufe im Pflegeheim, minutentaktgenaue Abfertigung vom Pflegedienst: das kann nicht das Leben im Alter sein! Das muss es auch nicht, wie ein innovatives Betreuungskonzept aus Hagen zeigt.

Gegen Mittag bin ich verabredet in Hagens privater Seniorenwohngemeinschaft Braatz. Das Mehrfamilienhaus in der Kampstraße 15 war bis vor ein paar Jahren ein reines Bürogebäude. Als im Sommer 2013 eine 130 Quadratmeter große Wohnung frei wurde, griff die Sozialpädagogin Susanne Braatz zu. Sie war auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihre schwerkranke Mutter, rund um die Uhr betreut, in einer familiären Umgebung unterzubringen. Und sie war sich sicher, dass es humane Alternativen zu Alten- und Pflegeheimen geben musste, durch die es möglich würde, jedem einzelnen Bewohner, Aufmerksamkeit zu schenken und gleichzeitig gute Arbeit zu leisten.

Ein Traum wird wahr

So entstand die Idee von einem Leben in heimischer Umgebung mit einer Wohnung, in der Menschen mit Handicap mit Hilfe von 24-Stundenbetreuung ihren Alltag verbringen können. Mit dem Thema hatte sich Gründerin Susanne Braatz schon einige Jahre zuvor in ihrer Abschlussarbeit an der Uni Dortmund beschäftigt. "Im Alter muss nicht jeder ins Heim", sagt sie und beweist es mit ihrem Konzept.
Über Anzeigen fanden sich zwei Mitbewohner, doch bevor es im Juli 2013 richtig losgehen konnte, galt es, Vorbereitungen zu treffen: Gespräche mit Pflegediensten, die Suche nach Ärzten - vor allem einem Neurologen - die auch Hausbesuche machen konnten. Dann mussten Betreuungskräfte gefunden werden, die mit den Bewohnern zusammen leben. Drei Umzüge mussten organisiert werden, jeder sollte sein Zimmer selber einrichten dürfen.
Susanne Braatz ist stolz darauf, dass mittlerweile drei WGs zu managen sind. Weil das alleine kaum zu schaffen ist, ist ihr Ehemann fest eingestiegen. Wolfgang Braatz ist vor allem für das Personal zuständig. "Wenn die Zusammenstellung fachlich und menschlich stimmt, dann kann nicht mehr viel schief gehen", sagt der ehemalige Radioredakteur. Die Gründerin möchte mir die jüngste WG zeigen. Vor zwei Tagen ist Edda hinzugezogen. Sie ist 75, und seit fünf Jahren Witwe. Seitdem wohnte sie allein. Ihre Tochter, die sich jeden Tag um sie kümmert, fand sie vor kurzem in der Badewanne. Sie hatte es nicht selbstständig heraus geschafft. Es musste eine Lösung her, entschied ihre Tochter.

Ich bin neugierig geworden. Was erwartet mich? Ich betrete eine Wohnung, wie es sie tausendfach in Hagen gibt. Nichts, was mich an eine Heimsituation erinnert. Die Betreuerin Margot nimmt mich herzlich in Empfang und führt mich ins Wohnzimmer. In dem großen, gemütlich eingerichteten Raum, sitzen die vier Senioren, die hier wohnen, gemeinsam am Esstisch und genießen Kaffee und Kuchen. Sofort rücken sie zusammen und stellen mir ein Kaffeegedeck hin.
Ich habe Gelegenheit die drei Damen und den einzelnen Herrn etwas kennenzulernen. Sie erzählen mir, warum es nicht mehr möglich war, alleine zuhause zu leben. Irgendwie scheinen sich die Geschichten zu ähneln. Meist war es den Kindern oder Angehörigen zu verdanken, dass sie in diese WG gekommen sind. Durch Zufall habe man von deren Existenz erfahren, berichtet mir eine Tochter später, die ihre Mutter Hilla besucht und nun ebenfalls mit am Esstisch sitzt. Ihre Mutter hatte alleine zuhause überhaupt keinen Tagesrhyhthmus mehr, hatte sehr abgenommen. Die ständige Sorge, dass etwas passieren könnte, man hatte einfach keine Ruhe mehr.
Und hier wird sie komplett versorgt, ist unter Menschen, man unternimmt gemeinsam etwas und der Tag ist organisiert. Die Familie kann wieder in Ruhe schlafen. "Wenn ich gewusst hätte wie schön es hier ist, wäre ich schon viel früher gekommen", sagt Hilla. "Ja", nickt Edith, ihre Mitbewohnerin, "wir leben hier nicht in einer Wohngemeinschaft , sondern in einer Verwöhngemeinschaft."

Leben wie in einer Familie

Jeder Bewohner hat Kleinigkeiten, um die er sich selber kümmert: Blumen gießen, den Balkon fegen, den Tisch decken oder Wäsche falten. Wer kann, bringt sich mit ein, wer nicht kann, dem wird geholfen. "Wir leben hier wie in einer Familie zusammen. Planen unser Essen und helfen hin und wieder auch mal beim Kochen. Morgen soll es Grünkohl geben." Edith schaut in die Runde: "Wer schält Kartoffeln..?"
Obwohl die Mutter von Susanne Braatz mittlerweile in einer der Wohngemeinschaften verstorben ist, brennt sie nach wie vor für diese Idee der Seniorenbetreuung, selbstbestimmt und gut versorgt im privaten Umfeld leben zu können. Dafür sucht sie weiter geeignete Wohnmöglichkeiten.
"Vielleicht können wir in Kürze zwei neue Projekte realisieren. Ein größeres und ein etwas kleineres." Mehr will sie noch nicht verraten.

Aber wer mag, kann sich gerne weitere Informationen einholen über das Büro, das ebenfalls in die Kampstraße 15 eingezogen ist, oder telefonisch unter 02331-3443215. (wb)

Autor:

Silvia Dammer aus Hagen

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