Mal in eigener Sache (Andreas Rau)

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  Mal in eigener Sache (Andreas Rau)

Als Leiter der Hagener AIDS-Hilfe bin ich der festen Überzeugung, dass wir eine gute Arbeit machen und vor Allem, dass wir uns am Menschen orientieren, dass wir fachkompetent und wirklich auf dem aktuellsten Stand beraten, dass wir zuhören können, dass wir ein Herz haben und trotzdem ausreichend Professionalität besitzen, um die Menschen, die unsere Hilfe suchen, zu begleiten. Ich bin der Überzeugung, dass JEDE*R unserer Mitstreiter*innen diese Haltung repräsentiert und umsetzt. Jede*r mit Herz und Verstand dabei ist, empathisch (aber nicht blöde) und großer Kompetenz bei der Sache ist. Herzblut eben.

Klar, als Leiter der Einrichtung wäre es wohl auch schlimm, wenn ich das nicht denken und vertreten würde. Und trotzdem ist es eben die Haltung eines Leiters und nicht die aus Perspektive eines Ratsuchenden, wie Susanne Musterfrau oder Kalle Mustermann, Und da es diese "Mustermänner" auch gar nicht gibt oder geben kann, ist es nicht so ganz einfach, diese Perspektive einzunehmen, um zu überprüfen, ob meine Überzeugung wirklich mit der Realität von Ratsuchenden übereinstimmt, oder ob wir uns nicht vielleicht einfach etwas vormachen. Wie viel wissen (und spüren) wir denn eigentlich von den Sorgen und der Freude der Menschen, denen wir "helfen" wollen? Jenseits von Studien oder empirischen Untersuchungen und vor allem jenseits der eigenen - professionellen - Sicht?

Nun, warum schreibe ich das?

Es hat sich in den letzten 20 Jahren unglaublich vieles verändert. Strukturell, personell, medizinisch, sozial, politisch. Das Wesentliche dabei: "AIDS ist nicht mehr, dass was es mal war". Ein Schlagwort und eine Kampagne unseres Dachverbandes vor ein paar Jahren, die wir plakativ in die Öffentlichkeit getragen haben und zu dem ich inhaltlich voll und ganz stehe.

Gestern Abend war plötzlich aber alles anders. Aufmerksamen Leser*innen wird nicht entgangen sein, dass seit Jahren das Leben mit HIV deutlich an Lebensqualität und Normalisierung gewonnen hat, dass "man mit HIV gut leben kann", dass es einem gut gehen kann und man (bis auf Dauermedikation) recht normal leben kann und dass selbst die Stigmatisierung um einiges abgenommen hat, die Menschen in "besonderen Lebenssituationen" erleben. Ne, es ist nicht alles gut. Aber es ist vieles einfach besser geworden. Das gilt nicht nur für die Menschen, die als Infizierte oder Angehörige "betroffen" sind, Das gilt gleichermaßen auch für die, die einen "anderen Lebensstil" pflegen und leben, als der sog. "normale". Schwule (sorry, LGBTTI, Queer) , Frauen, Männer, Freier*innen, Sexarbeiter*innen, betrogene Ehepartner, überzeugte Singles, überzeugte Ehebefürworter... eben für (fast alle).
Das alles weiß ich, das alles kenne ich und ist meine feste Überzeugung.
Kommt man da eigentlich als "Berufsbetroffener" nicht mal in Zweifel?
OH DOCH! Nämlich spätestens wieder dann, wenn das Thema Dich wieder selbst erreicht und einholt. Nicht beruflich, sondern ganz konkret in Deinem persönlichsten und intimsten Bereich. Wenn Du plötzlich selbst wieder vor der Frage stehst, welches Dein eigener Lebensstil ist, was Deine eigenen Wünsche an das Leben sind, wenn Du glaubst, Dich selbst angesteckt zu haben und dich plötzlich vor der Frage siehst, wie Du Dich zukünftig "schützen" willst und in der Vergangenheit "geschützt" hast. Deine eigenen Beziehungen, Affären oder was auch immer, plötzlich ins Zentrum rücken.
Seit einiger Zeit ist das Thema PrEP in Hagen sehr aktuell. Eine medizinisch wirksame, aber moralisch, politisch und sozial aber auch umstrittene Strategie, sich vor HIV-Infektionen zu schützen. Ganz etwas anderes, als ich es selbst über die vielen Jahre meiner Arbeit und meines Lebens gelernt und verinnerlicht habe.
Ich habe wirklich lange darüber gegrübelt, ob dieses "neue" für mich ganz persönlich erstrebenswert wäre und was das mit mir und meinem Leben machen würde. Für mich und Schatz bedeuten würde.... "was wäre wenn?".
Fakt ist, das kann man nicht, ohne irgendwann mal mit anderen darüber in Dialog zu gehen. Und als langjähriger in Beziehung lebender (eben mit jenem SCHATZ) ist das eben nicht alleine "meine Sache". Und dann kommt ja dazu, dass Du, um die PrEP überhaupt nehmen zu können, zahlreiche Untersuchungen machen musst. Du musst nachweisbar HIV-negativ sein, wirst auf sexuell übertragbare Infektionen gecheckt, und - wenn wir unsere Beratungsstandards ernst nehmen - auch psychosozial beraten.... das heißt, dass Du dich eigentlich selbst mit vielen, teilweise längst verdrängten Fragen, Deiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, beschäftigst und die Berater*innen mit ihren Fragen und mit ihrer Person eine ganze Menge bei Dir auslösen.

Und da sind wir dann eben wieder. Bei der Ausgangsfrage von da oben in diesem Post.
Ich habe gestern beschlossen, dass ich die PrEP zumindest ausprobieren möchte.
Wir hatten nicht so viel zu tun, da das Wetter gestern den einen oder anderen Kunden abgehalten hat, zu kommen. Nach drei Kunden war es ruhig. Den ganzen Tag schon gärte es in mir. Wann war ich eigentlich zum letzten Mal in meinem Leben selbst bei einem Test und zu einer Testberatung? Puh.... das ist lange her. Ich konnte (wollte?) mich nicht so genau daran erinnern. Mindestens 18 Jahre. Und das ist lange! Für mich ist es aber auch aus beruflichen Gründen nicht so super einfach. Denn überall, wo ich hingehen würde, treffe ich auf meine Kolleg*innen, mit denen ich zum Teil schon seit Jahren arbeite. Und ganz ehrlich - wer möchte schon gerne vor Kollegen sein privates und innerstes ausbreiten, wenn er weiß, dass er ihm morgen am Schreibtisch oder in einem Meeting wieder gegenüber sitzt. Also NRW kann soooooooooo klein sein. Und Hagen erst.
Nun, will ich die PreP oder will ich einen Test, ist aber genau das für mich nicht vermeidbar.
Und dann da sitzen und plötzlich wieder "Klient" zu sein und eben nicht "Berater". Plötzlich wieder den kalten Schweiß in den Händen zu spüren, aufgedreht dummes Zeug zu reden, weil man einfach verlegen ist, weil man peinlich berührt ist, weil es um einen selbst geht. Und um niemand anderen. Weil man pöltzlich einfach Mensch ist, der dem Heulen näher, als dem Lachen ist, dem die Hände zittern, dem die Stimme bebt... Kennt Ihr. Es ist fast vergleichbar, wie das berühmte "erste Mal" oder die Konfirmation. Aber die teilst Du zumindest mit vielen anderen. Da stehst Du eben nicht alleine und alle beobachten Dich...
Ich nahm gestern meinen ganzen Mut (und viel war es nicht) zusammen, ging erst allen auf den Zeiger, dann eine rauchen und dann auf den Stuhl zum Doc.
Erst den Prep-Check. Blutentnahme aus der Vene. Dann Becherchen, Abstrichstäbchen und ab zur Toilette. Und jeder weiß ja, was Du da tust. Ein wenig wie bei der Musterung vor 30 Jahren.
Dann einen Schnelltest, weil ich dann doch - zumindest dieses Ergebnis - sofort haben wollte und meine Bedenken nicht mit ins lange Wochenende nehmen wollte. Dann wieder dummes Zeug quatschen, "lockere Sprüche machen", eine bis drei Zigaretten rauchen... warten. Es wissen wollen, es nicht wissen wollen, oder doch? Oder etwa lieber nicht?
"Ach, wenn es so ist, dann ist es so. Man kann heute mit HIV gut leben und alt werden... es verändert nicht viel".
Oh man... das sind Sprüche!

"Ich brauche keine Beratung", habe ich Chris noch vorher gesagt. "Ich WILL keine Beratung",

hätte es ehrlicher heißen müssen... oder will ich eben doch eine? Es soll nur nicht so aussehen, als wollte ich eine..."

Wie auch immer. Ich habe es getan. Ich habe es gemacht. Ich habe es ganz bewust bei "uns" gemacht. Bei Chris, bei "unserem" Doc, bei Philipp, bei Aleks, Uwe, Hartmut und auch Kathrin.
Und was soll ich sagen?
Die sind ganz genau so, wie ich sie oben beschrieben habe. Sie sind da, sie sind professionell, sie sind empathisch und holen einen da ab, wo man steht, sie hören zu, sie nehmen in den Arm, sie halten mich in so einer Lage mit meiner Laune aus. Sie sind einfach klasse und ich habe mich in jeder Minute gestern einfach wohl und geborgen gefühlt.
Alles das, was ich als Leiter eben sowieso weiß, habe ich als "Klient" gestern spüren und selbst erfahren können. Und es tat sooooooooooo gut. Ich würde es jederzeit wieder tun.

Euch allen ein ganz fettes Danke schön. Ich möchte jetzt keine Herzchen machen, keine Emoticons und diesen ganzen Kitsch. Ich möchte Euch einfach sagen, schön, wie Ihr das macht.
Und allen Leser*innen, die sich mit ähnlichen Gedanken tragen, wie ich gestern.
Traut Euch. Die Jungs und Mädels sind wirklich "richtig!"

P.S.: Wer jetzt fragt... "und, wie war das Ergebnis"?
Tja, das bleibt offen. Wir stehen unter Schweigepflicht :-) :-P

weitere Infos zum HIV -Test und Test auf sexuell übertragbare Infektionen hier:
www.aidshilfe-hagen.de

Autor:

Andreas Rau aus Hagen

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