Schau mich an ­­­- Gesicht einer Flucht: Vor 72 Jahren aus Ostpreußen vertrieben

Fast auf den Tag genau vor 72 Jahren wurde Adolf mit seiner  Familie aus Ostpreußen vertrieben. Foto: Privat
  • Fast auf den Tag genau vor 72 Jahren wurde Adolf mit seiner Familie aus Ostpreußen vertrieben. Foto: Privat
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Angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation erinnern sich auch Deutsche an den Zweiten Weltkrieg. 1945 suchten etwa 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene eine neue Heimat. Fast auf den Tag genau vor 72 Jahren wurde Adolfs Familie aus Ostpreußen vertrieben. Dieses Erlebnis, die Not und die Schwierigkeiten des Neuanfangs machten ihn für die Situation der Spätaussiedler in den 90er Jahren empfänglich. Der heute 86jährige half, wo immer er konnte. Die Erlebnisse der deutschen Teilnehmer dieser Serie protokolliert die freie Journalistin Gerburgis Sommer.

„Mein letzter Schultag war der 19. Januar 1945. Wir wurden nach Hause geschickt, weil die Russen anrückten. Am nächsten Tag kam der Räumungsbefehl. Meine 87jährige Großmutter saß bei minus 20 °C und Schneetreiben auf Betten gehüllt auf dem Wagen. Meine Mutter lenkte das Pferd. Meine Schwester, sie ist neun Jahre älter, und ich liefen nebenher. Nur mein Vater blieb als Bahnbeamter im Dienst in Buchwalde zurück.
Drei Tage flohen wir fast ohne Pausen über völlig verstopfte und vereiste Straßen Richtung Elbing. Weil wir nicht geschlafen hatten, drehten wir allmählich durch. In den Straßenbäumen sah ich Gespenster, auch meine Mutter konnte nicht mehr klar denken. Anders ist nicht zu erklären, dass sie mich kurz vor der Stadt Elbing vorausschickte. Ich fuhr auf einem LKW mit, bis ich nach einigen Kilometern zu Bewusstsein kam. In diesem Chaos würde ich die anderen niemals wiederfinden. Ich rannte zurück, habe gebetet, dass ich sie finde - an einer Kreuzung stand meine Mutter. Sie hatte auf mich gewartet.
Am 17. Februar 1945 wurde meine ältere Schwester von den Russen zur Zwangsarbeit verschleppt. Sie gaben uns fünf Minuten zum Verabschieden. Wir konnten es nicht fassen. Erst nach mehr als vier Jahren kehrte sie zu uns zurück. Da wohnten wir schon in Haltern.
In Elbing war unsere Flucht vorerst zu Ende. Aber es gab kein Geschäft mehr, gar nichts. Die Russen haben sich nicht um die Zivilbevölkerung gekümmert. Die Leute verhungerten. Eine Familie hatte ein Baby, und wenn wir auf „Klaureise“ waren, habe ich ihm Puddingpulver mitgebracht. Aber irgendwann ist es gestorben. Ein Mädchen wurde so lange vergewaltigt, bis sie starb. Diese furchtbaren Dinge kann man gar nicht alle wiedergeben.
Im Mai/Juni sind wir zurück nach Buchwalde. Unser Haus fanden wir mit einem Granattreffer und geplündert vor. Ich kannte so etwas aus Elbing und wusste, wie geplünderte Wohnungen aussehen. Aber hier unsere Sachen wiederzuerkennen, tat weh. 1947 sind wir endgültig weg - als 17jährigen hätten mich die Polen zur Zwangsarbeit in die Bergwerke nach Schlesien geschickt.
Nach Stunden der Ungewissheit im Auffanglager in Stettin sagte eine Polin, dass uns ein Zug hinter die Oder bringen würde. Es herrschte atemlose Stille. Dann stimmte jemand das Lied an „Nun danket alle Gott...“. Wir sagen alle aus tiefem Herzen mit und schämten uns unserer Tränen nicht. Wir saßen ja noch eingeschlossen in einem Lager, aber es hatte sich ein kleiner Ausblick in eine menschenwürdigere Zukunft geöffnet.
In Erfurt fanden wir uns plötzlich in einer heilen Welt. Als ich die unversehrten Häuser sah, die Geschäfte, Cafés und recht gut gekleideten Menschen, da meinte ich, von einem bösen Traum aufgewacht zu sein. War das, was wir in den letzten 30 Monaten in Ostpreußen erlebt haben, überhaupt wahr? Hatten die Menschen in Erfurt eine Ahnung, was sich im Osten abgespielt hat?
Mein Vater war im Januar 1945 mit dem letzten Zug rausgekommen. Wir wussten zunächst nicht, ob er lebt. Er wurde zunächst nach Berlin, Rendsburg und schließlich nach Haltern versetzt. Hier haben wir beides erlebt, Feindseligkeit aber auch Freundlichkeit.

Die Erlebnisse der deutschen Teilnehmer dieser Serie protokolliert die freie Journalistin Gerburgis Sommer (www.gesichter-einer-flucht.de). Die Ausstellung mit 18 Gesichtern einer Flucht ist bis zum 25.01. in der Bürger- und Schulbibliothek „BiBi am See“ in Wulfen, Wulfener Markt 4, zu sehen. Vom 26.01. bis zum 17.02. wird sie in der Katholischen Familien-Bildungsstätte e.V., Große Rosenstraße 18, in Osnabrück gezeigt.

Autor:

Michael Menzebach aus Haltern

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