Flug 4U9525 und die Medien: Voll auf die Tränen

Durch ein Flatterband wurden die Medienvertreter von den Schülern getrennt. Fotos: Borgwardt
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Haltern steht unter Schock. Der Tod von 16 Schülern und ihren beiden Lehrerinnen ist für die Angehörigen, Freunde und Nachbarn eine Tragödie. Für die internationale Presse ist sie aber vor allem eins - ein Geschäft. Auf der Jagd nach den besten Bildern verschwimmen am Tag danach die Grenzen zwischen Moral und Kommerz.

Wer am Mittwoch einen Parkplatz am Schulzentrum sucht, wird enttäuscht. Statt Schulbussen voller fröhlicher Kinder bohren sich hier die Antennen der Übertragungswagen in den grauen Himmel. Internationales Stimmengewirr füllt die Luft: Briten, Amerikaner, Franzosen, Russen, Italiener, sie vertreten hier die großen Sender. Sky News, RT, BBC, aber auch die deutschen Branchenriesen sind vor Ort. Kameraleute schultern ihre High-Tech-Augen, Moderatoren richten ihr Haar, die Techniker bellen in ihre Telefone. Haltern, das ist für sie Alltag. Eine Story, deren Wert mit jeder Minute ab- oder zunehmen kann, je nach Publikumsinteresse. Beim Absturzort in den Alpen ist das Terrain unzugänglich, mit der Kamera kommt man nicht vor Ort. Also nach Deutschland. Tote Teenager, das verkauft sich gut.

Eine gute Story.

Auf der anderen Seite des Flatterbands ringen junge Menschen mit der Fassung. Schüler hatten eine Treppe mit Kerzen zu einem Ort des Gedenkens gemacht. Ein Schild steht an eine Tischtennisplatte gelehnt. "Gestern waren wir viele", formen Buchstaben mit weißer Farbe darauf, "heute sind wir allein." Auf eine sehr perfide Art stimmt das an diesem Tag nicht. Die Welt schaut zu, und die internationalen Medien tun alles, damit sie weiter hinsehen. Kinder laufen an der Phalanx der Journalisten vorbei, sichtbar bewegt. Sie haben Kerzen angezündet, geweint. Kameras schwenken auf ihre Gesichter, der elektrische Zoom summt. Voll auf die Tränen.

Eine gute Story.

"Es ist schwer, das nicht an sich heranzulassen", sagt Ramona Hörst. Die Pressesprecherin der Polizei Recklinghausen ist ein Medienprofi, aber in ihren Augen spiegelt sich Mitgefühl. "Das hier ist sonst ein Ort, an dem man Kinder lachen hört. Und was hört man nun?" Sie hält inne. Kein Lachen ist zu hören. Nur das mechanische Brummen der Dieselgeneratoren. Sie befeuern Sendeanlagen, Schnittpulte, Scheinwerfer, Elektronik. In Sekunden sind die Bilder in aller Welt. Bilder von Kindern, die Kerzen anzünden.

Eine gute Story.

Ein Flatterband markiert die Grenze. Kein Medienvertreter soll diese Linie überschreiten, den Trauernden soll genug Raum gegeben werden, weg von Kameras und Mikrofonen. Polizisten schirmen die Jugendlichen ab, so gut es geht. Die Uniformierten wirken professionell, aber betroffen. Keine Frage, wenn es nach ihnen ginge, würde hier nicht eine Kamera stehen, niemand würde in seiner Trauer belästigt. Die Pressevertreter schauen über das Band: Da hinten sind wieder viele Schüler. Ein guter Hintergrund. Einer der Reporter, der vor Sekunden noch beim Essen mit seiner Crew gescherzt hat, steht auf und reibt sich über die Augen. So sieht er menschlicher aus, mitfühlender. Eine blonde Journalistin mit puppenhaftem Aussehen blickt in die Kamera. Die Lichter flammen auf, die Gesichter formen sich zu mitleidigen Masken. Mitleid kommt gut an.

Es ist eine gute Story.

"Es ist ein schmaler Grat", sagt Ramona Hörst. "Wir müssen der Presse Raum geben, aber wir müssen auch die Angehörigen schützen. Sind wir zu restriktiv, suchen sich die Leute selbst ihren Weg. Gestern hatten wir vor allem lokale Medien hier, da herrschte gegenseitiger Respekt. Aber heute", sie sieht auf die Wälder von Kameras, "mit der internationalen Presse ist das schon schwieriger." So wie die Objektive gerichtet sind, erscheinen die Schüler für die Medienmacher wie Tiere in einem Zoo, und das Flatterband ist der Zaun. Vom Verhalten einiger Reporter aber zu schließen, ist das Gefälle anders herum. Weinenden Jugendlichen sei Geld geboten worden, um sich vor die Kamera zerren zu lassen - so geht das Gerücht. Sicher ist, dass die Trauernden für die Weltpresse nicht viel mehr als Objekte sind. Irak, Syrien, Haltern - das Leid ist austauschbar, Alltagsarbeit.

Wirklich nur eine gute Story?

18 Menschen aus der Nachbarschaft sind umgekommen, darunter engagierte Jugendliche, die Zeitungen für den Stadtspiegel Haltern ausgetragen haben. Es sind keine Geschichten. Es sind Menschen. Der Stadtspiegel-Reporter schaltet die Kamera aus. Er hat das Gefühl, sich die Hände waschen zu müssen.

Autor:

Oliver Borgwardt aus Dorsten

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