Ist mein Kind autistisch? Interview mit Experten des LWL

Thorsten Kutschera nimmt die Sorgen der Eltern ernst. | Foto: lwl
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Marl-Sinsen (lwl). Die Sorgen von Eltern ernst nehmen und eine fundierte Diagnostik bieten, so lauten die Ziele der neu eingerichteten Autismus-Sprechstunde der Marler Fach-klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Seit circa einem halben Jahr gehen der Ärztliche Leiter der Ambulanz Thorsten Kutschera und der Diplom-Psychologe Marco Timmerhinrich dem speziellen Verhalten dieser jungen Patienten auf die Spur.

Herr Kutschera, kürzlich war zu lesen, dass demnächst ein autistisches Mädchen in die Sesamstraße einzieht. Ist diese Erkrankung mittlerweile so häufig?

Kutschera: Es stimmt, dass eine autistische Störung heutzutage etwas häufiger diagnostiziert wird als das noch vor einigen Jahren der Fall war. Das liegt aber nicht unbedingt daran, dass es mehr Menschen mit dieser Erkrankung gibt, sondern daran, dass die Gesellschaft an sich aufmerksamer geworden ist für Verhaltensauffälligkeiten. Auch das diagnostische Instrumentarium wie Beobachtungsbögen und Testverfahren ist im Laufe der Zeit immer besser und genauer geworden. Das erleichtert den Fachleuten natürlich die Diagnosefindung. So erhalten heute mehr Menschen notwendige Hilfemaßnahmen und Förderungsmöglichkeiten für ihre Erkrankung als es noch vor einigen Jahren der Fall war.

Bei welchen Warnsignalen würden Sie Eltern raten, sich mit ihren Kindern in der Autismus-Sprechstunde vorzustellen?

Timmerhinrich: Autismus in seiner reinen Form ist eher sehr selten. Aber eine Häufung einzelner Symptome sollte stutzig machen. Zum Beispiel, wenn mein Kind am liebsten alleine ist, keinen Blickkontakt zu anderen Personen aufnimmt und vielleicht noch „Marotten“ hinzukommen, wie die, dass alle Spielsachen immer in gleicher Weise aufgestellt werden müssen und ihm Veränderungen im Tagesablauf sehr große Problemen bereiten, dann ist es sinnvoll einmal genauer hinzuschauen.

Wie läuft eine Diagnostik in der Ambulanz der LWL-Klinik Marl-Sinsen ab?

Timmerhinrich: Unser Ansatz ist zu beobachten, ob es eine andere Problematik gibt, die vielleicht einer autistischen Störung ähnelt - aber eine ganz andere Behandlung erfordert. Das können zum Beispiel eine Angst- oder Zwangsstörung oder auch eine Depression sein.
Zu unserer Diagnosefindung gehört deshalb neben einer entsprechenden psychologischen Untersuchung ein ausführliches Interview der Bezugspersonen, indem diese unter anderem von den aktuellen und früheren Verhaltensweisen ihres Kindes erzählen. Im Anschluss werden das aktuelle Verhalten und die Fähigkeiten des jungen Menschen im Rahmen eines speziellen Beobachtungsverfahrens beleuchtet. Dabei gehen wir auf jeden unserer Patienten individuell ein und haken ein bestimmtes Verhalten nicht einfach ab, sondern berücksichtigen auch die besondere Situation in der er oder sie sich während dieses Tests befinden.
Weitere wichtige Aspekte für eine Diagnose sind Vorinformationen, zum Beispiel des Kinderarztes und schließlich unsere Beobachtungen abseits des Tests. Wenn mich ein Kind schon zur Begrüßung anlächelt, mir in die Augen schaut und mich anspricht, dann ist das für mich ein Indiz, das eher gegen eine Autismus-Störung spricht. Am Schluss tragen wir alle Beobachtungen und Bewertungen zusammen, die entweder für oder gegen eine Autismus-Diagnose sprechen.

Und wie geht es dann weiter?

Kutschera: Egal, ob wir eine autistische Störung feststellen oder eine andere seelische Erkrankung, wir bieten den Eltern und Patienten in jedem Fall die passenden Hilfe- bzw. Therapiemaßnahmen an. Das kann der Verweis zu einem speziellen Autismus-Therapie-Zentrum sein, eine stationäre Aufnahme oder auch eine ambulante Therapie, in der die Betroffenen ihr Sozialverhalten trainieren um besser mit ihrer Umwelt klarzukommen.

Hintergrund

Die Diagnose Autismus umfasst den frühkindlichen Autismus, der zumeist bereits vor dem dritten Lebensjahr auftritt, das Asperger-Syndrom, das häufig als eine mildere Form des Autismus bezeichnet wird und den Atypischen Autismus, bei dem sich kein Vollbild der autistischen Störung zeigt. Allen autistischen Erscheinungsbildern gemein ist eine Störung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. So können Betroffene zum Beispiel Gesichtsausdrücke, die Freude, Trauer oder Wut ausdrücken, nicht deuten. Das macht es ihnen schwer, angemessen auf das Verhalten ihres Gegenübers zu reagieren. Auch, die Kommunikationsfähigkeit ist häufig betroffen. So verstehen Menschen mit einer autistischen Störung vielfach keine Metaphern oder Ironie. Eine weitere Besonderheit sind stereotype Verhaltensweisen oder Spezialinteressen und Probleme mit Veränderungen. Untersuchungen in Europa, Kanada und den USA weisen 6-7 Erkrankungen auf 1000 Fälle aus (Quelle: Bundesverband Autismus e.V.).

Eltern, die den Verdacht hegen, dass ihre Kinder autistische Verhaltensweisen zeigen, können sich bei der Ambulanz der LWL-Klinik Marl-Sinsen melden und unter Tel. 02365 / 802-2402 einen Vorstellungstermin vereinbaren.

www.lwl-jugendpsychiatrie-marl.de

Thorsten Kutschera nimmt die Sorgen der Eltern ernst. | Foto: lwl
Schauen genau hin und sammeln auch Beweise, die gegen Autismus sprechen: Marco Timmerhinrich und Thorsten Kutschera (v.l.) | Foto: lwl
Autor:

Olaf Hellenkamp aus Dorsten

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