Wie langsam ist „so langsam wie möglich“, Herr Cage?

Deckblatt der Notenausgabe | Foto: Musikverlag Edition Peters
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Für die derzeit laufende Aufführung des Orgelstücks „ORGAN²/ASLSP“ ist diese Frage bereits beantwortet.

„So langsam wie möglich“ heißt auf englisch “as slow as possible“. Anhand der folgenden fettgedruckten Großbuchstaben kann man den Bezug zwischen diesem englischen Satz und dem Titel des eingangs erwähnten Orgelstücks erkennen: As SLow aS Possible.

John Cage (1912-1992), Komponist, Philosoph, Maler und Literat, hat es ersonnen. Und die sachsen-anhaltinische Kreisstadt Halberstadt hat die Ehre, mit ihrer Burchardikirche den Schau- und Hörplatz für das Ereignis zu bieten. Für welches Ereignis? Nun, für das Ereignis, welches aus sehr vielen sehr weit auseinanderliegenden Einzelereignissen (Impulsen genannt) besteht, von denen genau heute, am 5. Oktober 2013, wieder eines eintritt. Grund für mich, hier davon zu berichten. Doch eines nach dem anderen.

Das Orgelstück

„ASLSP“ hieß es zunächst, als es 1985 entstand und noch ein Klavierstück war. Zwei Jahre später, nachdem der Organist Gerd Zacher den Komponisten John Cage gebeten hatte, es für Orgel zu bearbeiten, nannte dieser es „ORGAN²/ASLSP“. Musikfreunden sind wahrscheinlich die üblichen Tempobezeichnungen wie largo, andante oder vivace geläufig. Unter denen kann man sich etwas Ungefähres vorstellen. Man kann beispielsweise auf einem Metronom ablesen, daß andante ein (Geh-)Tempo von 76 bi 108 Schägen pro Minute bezeichnet. Oder man kann es in den Musik-Schulbüchern der Kinder nachschlagen, im Internet ergoogeln.

Was aber, wenn die Spielanweisung des Komponisten, wie in dem hier besprochenen Stück, „as slow as possible“ lautet“? Wenn unklar ist, wie man das deuten, wie man das Stück aufführen soll? Dann müssen Musikwissenschaftler, Organisten, Orgelbauer, Theologen und Philosophen ein Symposium abhalten, in dem sie diese Frage erörtern. Und genau das taten sie im Jahre 1977 in Trossingen. Es wurde deutlich, daß der Aufführungsdauer dabei prinzipiell keine Grenzen gesetzt sind, solange Haltbarkeit und Funktionsfähigkeit der Orgel sowie Fried- und Kulturfähigkeit des Menschen gewährleistet sind.

Halberstadt 1361 - 2000 – 2639

Inzwischen wurde daraus eine sehr konkrete Idee geboren. Die erste Großorgel der Welt, die für kirchenmusikalische Zwecke genutzt wurde, und deren 12töniges Klaviaturschema heute auf allen Tasteninstrumenten verwendet wird, war die 1361 fertiggestellte große Blockwerkorgel im Dom zu Halberstadt. Im Jahre 2000, dem vieldiskutierten und -gepriesenen, in dem die ganze Welt sich auf ein neues Jahrtausend einzustellen begann, konnte die Kirchenorgel damit auf das stattliche Alter von 639 Jahren zurückblicken. Und nun wurde die „Zeitlatte“ dieser Jahre einfach um den „Drehpunkt 2000“ geklappt, bis ins Jahr 2639. Damit hatte das Stück eine konkrete Aufführungsdauer, nämlich die von 639 Jahren, bekommen. Anhand der Partitur von „ORGAN²/ASLSP“ wurden die darin enthaltenen Notenwerte auf diese Zeit gestreckt – maßstabsgetreu.

Rückblick, Aktuelles, Ausblick

Der Startimpuls, der am 5. September 2001 erfolgte, hatte zunächst lediglich eine zweijährige Pause in Gang gesetzt, also noch nichts Hörbares zur Folge. Solches zeitigte „kurz darauf“ der zweite Impuls, der am 5. Februar 2003 gleich drei Töne aktivierte.

Das aktuelle Ereignis heute, am 5. Oktober 2013, ist bereits der 14. Impuls (auch 13. Klangwechsel genannt). Dieser besteht darin, den beiden seit dem 5. Juli 2012 allein verbliebenen (und sich seitdem „beißenden“) Baßtönen C und Des die drei Töne dis¹, ais¹ und e² hinzuzufügen.

Die Orgel, die diesem Stück zum klanglichen Leben verhelfen soll, besteht nur aus den paar Pfeifen, für die es schon „etwas zu tun“ gibt. In den Phasen zwischen den Impulsen gibt es ja reichlich Zeit, die Pfeifen einzubauen, die als nächste benötigt werden. So werden zum Beispiel die Pfeifen für die hinzukommenden Töne dis¹ und ais¹ heute erstmals in Betrieb genommen, während man für den erneut einsetzenden Ton e² auf eine schon vorhandene Pfeife zurückgreifen kann (der Ton erklang schon einmal vom 5. Februar 2009 bis zum 5. Mai 2010). Hier besteht übrigens ein Bezug zu unserer niederrheinischen Heimat, denn Entwurf und Bau dieser Projekt-Orgel liegen in den Händen der Firma Romanus F. Seifert & Sohn aus Kevelaer.

Die Impulse finden, wie dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein wird, jeweils am fünften Tag eines Monats statt, da im großen Maßstab der Monat die kleinste Einheit bildet und man an einem Fünften begonnen hat. Bisher hat es im Durchschnitt ca. einen Impuls pro Jahr gegeben, allerdings ist die Verteilung sehr unregelmäßig. Zwischen dem heutigen 14. Impuls und dem 15. Impuls (am 5. September 2020) wird es zum Beispiel für einige Jahre sehr langweilig werden. Eine ideale Zeit, um sich vielleicht zwischendurch auch einmal andere (kürzere?) Orgelstücke oder -konzerte anzuhören. Im Gegensatz dazu werden sich im Jahre 2034 die Ereignisse förmlich überschlagen, denn die Impulse 26 bis 28 werden im August, September und Oktober dieses Jahres stattfinden. Da bietet sich für Cage-, Orgel- und Musikinteressierte ein längerer Herbstkultururlaub in Sachsen-Anhalt an (wie zum Beispiel für den dann 83jährigen Autor dieses Berichts).

Diese Künstler aber auch!

„Alles irgendwie verrückt!“ denken Sie, „typisch Künstler“? Und vielleicht: „So etwas kann sich doch niemand anhören“. Richtig! Man muß es auch nicht, und auch ich werde es nicht. Schon aus Zeitmangel, denn ich habe in den nächsten 626 Jahren ja auch noch Wichtigeres vor. Aber um was geht es denn? Künstler wollen etwas bewußtmachen, etwas bewegen. Wollen dazu anstoßen, daß Beobachter etwas entdecken, diskutieren, auf ihr Lebensfeld projizieren. John Cage ist Meister darin, mit seinen neuen musikalischen Experimentierwegen.

Hier sind es zwei Aspekte, über die es sich m. E. nachzudenken (oder auch nur nachzufühlen) lohnt: die Spiegelung der Zeit (die Klappung der Zeitachse) und (insbesondere) die Entdeckung und Pflege der Langsamkeit.

Spiegelungsspiele mit der Zeit

Greifen Sie die Spiegelungsidee, die dem Orgelprojekt zugrunde liegt, doch einmal auf. Spiegeln Sie Ereignisse aus dem vorigen Jahrhundert am Spiegelpunkt 2000 – hinüber ins neue. Sie haben zum Beispiel im Jahre 1986 geheiratet? Wenn dann bei Ihnen alles „normal“ gelaufen ist, konnten Sie vor zwei Jahren Ihre Silberne Hochzeit feiern. So etwas ist sogar sehr normal – zumindest für solche Eheleute, die die 25 schaffen. Spiegeln Sie doch mal die 1986 hinüber, dann landen Sie im Jahre 2014. Im kommenden Jahr „Spiegelhochzeit“ feiern, das wäre doch mal etwas Originelles!? Oder spiegeln Sie, wie man es mit dem Baujahr der ersten Orgel gemacht hat, einfach Ihr eigenes „Baujahr“ hinüber. 1956 geboren? Natürlich können Sie dann im Jahre 2044 ganz normal Ihren 88. Geburtstag feiern, aber auch ihren „hinübergeklappten“. Wird schon klappen!

Oder lösen Sie sich von der magischen 2000 und wählen ihre individuellen Spiegelpunkte. Zum Beispiel Ihr Geburtsjahr. Die Praxis kennen Sie doch von der christusorientierten Zeitrechnung, mit den Angaben „nach bzw. vor Christi Geburt“. Werten Sie Ihr Geburtsjahr (und damit sich selbst) auf und gehen Sie mal gedanklich zurück, mit der Zusatzbezeichnung „v.m.G.“ (vor meiner Geburt). Was war los im Jahre 10, 50, 100 ... v. m. G.? Und wie könnte es wohl aussehen im Jahre 100 oder 200 n. m. G.?

Neuentdeckung der Langsamkeit

Zurück zur Langsamkeit! Denn das ist ja der zentrale Gedanke dieser Betrachtung. Mit „Entschleunigung“ kann man es auch bezeichnen, das Bestreben, der allgemeinen Beschleunigung, der Hektik der heutigen Zeit bewußt entgegenzuwirken, die sich am liebsten aller Lebensbereiche bemächtigen möchte, die sie erwischen kann. Zum Beispiel durch mehr Slow food statt Fast food, auch im übertragenen Sinne. Slow motion sollte nicht auf die Sportschau beschränkt bleiben, andrerseits das im Sport sinnvolle „citius, altius, fortius“ nicht überall sonst zum Prinzip erhoben werden. Schon durch kleine Verlangsamungen kann man sehr schnell(!) in die nähere Zukunft gelangen, durch größere dann auch sein Vertrauen in die weitere Zukunft ausdrücken und schulen. Es lohnt sich, nach entsprechenden Gelegenheiten zu suchen. Wobei ich die Aldi-Kasse in dem Zusammenhang nicht guten Gewissens für Entschleunigungsübungen empfehlen kann. Aber Sie werden schon etwas finden!

Aber lassen Sie sich Zeit!

Autor:

Theo Grunden aus Hamminkeln

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