Gerlinde Haag: "Manchmal bin ich auch Anwalt des Hundes"

Sobald Gerlinde Haag "Shadow" das Führgeschirr übergestreift hat, wird aus dem verspielten Weißen Schäferhund ein Blindenführhund, der seinen Besitzer sicher durch den Alltag manövriert.
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Trixi, Gina, Shadow und Merlin sprühen vor Energie. Ausgelassen tobt das Rudel mit "Leithündin" Gerlinde Haag auf der matschigen Wiese hinter deren Haus in Brockhausen. Das Verhalten ändert sich jedoch schlagartig, sobald die Hemeranerin einem ihrer Hunde das Führgeschirr anlegt. "Denn das ist das Signal für den Hund, dass er jetzt gerade arbeitet und seinen blinden Besitzer sicher durch dessen für ihn vollkommen schwarze Umwelt lotsen muss", erläutert die Expertin, "er ist quasi das Auge des Blinden".

Vor genau 20 Jahren gründete die IHK/BHV-zertifizierte Hundeerzieherin und Verhaltensberaterin ihre eigene Blindenführhundschule - übrigens die einzige im Märkischen Kreis und eine von nur circa nennenswerten 30 zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen - und erfüllte sich damit einen Kindertraum. Inzwischen hat sie erfolgreich mehr als 100 Blindenführhunde ausgebildet und mit ihren blinden Besitzern in ganz Deutschland zusammengebracht. "Das Ausbilden von Führhunden ist leider noch kein Ausbildungsberuf, man benötigt jedoch genau wie normale Hundeschulen eine Zulassung durch die Tierärzte-Kammer", so Gerlinde Haag.
Die Nachfrage nach ausgebildeten Führhunden ist dabei deutlich größer als das Angebot, "denn jeder Blinde hat ja theoretisch einen Anspruch auf einen Führhund." Pro Jahr kann Gerlinde Haag zwischen fünf und zehn ausgebildete Blindenführhunde an ihre neuen Besitzer abgeben - wobei es auch für sie Grenzen gebe. "Ich bekomme ab und zu auch Anfragen von mehrfach-behinderten Menschen", berichtet Gerlinde Haag, "aber bei der Kombination ,Blind und Rollstuhl' oder ,Blind und Taub' sage ich grundsätzlich ab." Dieses Schicksal sei natürlich absolut tragisch für die betroffenen Personen, "aber da bin ich dann auch Anwalt der Hunde". Mit derartig komplexen Anforderungen sei ihrer Meinung nach jeder Blindenführhund definitiv überfordert.
Die aufwändige Ausbildung eines Blindenführhundes beginnt frühestens im Alter von etwas mehr als einem Jahr und dauert in der Regel sechs bis neun Monate - und wird von der Krankenkasse bezahlt. "Blindenführhunde sind genauso wie Rollstühle oder Prothesen als medizinische Hilfsmittel anerkannt", erklärt die Hemeranerin.

"Labradoodle" liegen im Trend

Doch die Beziehung zwischen Gerlinde Haag und den künftigen Führhunden beginnt viel früher mit dem Kauf eines Welpen im Alter von rund acht Wochen. "Geeignet für die Aufgabe sind im Prinzip fast alle Arten, wobei Golden Retriever, Labrador-Retriever, Weiße und Deutsche Schäferhunde sowie Australian Shepherds am häufigsten ausgewählt werden." Ein neuer "Trend" seien aufgrund ihrer Pflegeleichtigkeit Kreuzungen aus Labrador und Pudel (sog. "Labradoodle") bzw. Golden Retriever und Pudel ("Golden Doodle").
Alle neuen Welpen finden dann für die nächsten zwölf Monate ihr neues Zuhause erst einmal in Pflegefamilien, wobei für alle anfallenden Kosten Gerlinde Haag aufkommt. "Die jungen Hunde brauchen im ersten Lebensjahr einfach sehr viel Aufmerksamkeit, intensiven Kontakt zu Menschen und möglichst viele ,normale' Alltagsreize. Und all das geht eben in einer ganz normalen Familie, wo der eine Hund im Mittelpunkt steht viel leichter als in meiner Hundeschule, wo ich mich täglich um mehrere Hunde, die sich aktuell bereits in der Ausbildung befinden, kümmern muss", nennt die Expertin den Grund für die vorübergehende Trennung, "deshalb bin ich auch ständig auf der Suche nach neuen interessierten Pflegefamilien, die sich gerne bei mir unter Tel.: 02372/862670 melden dürfen." Und für Familien, die sowieso überlegen, einen Hund anzuschaffen, sei dies eine gute Gelegenheit, einfach ohne langfristige Bindung auszuprobieren, ob ein Hund ein geeignetes Haustier sei.

Gespannprüfung für Tier und Mensch

Nach den zwölf Monaten in der Pflegefamilie und einer anschließenden Gesundheitsprüfung durch einen Tierarzt geht es für die Führhunde "in spe" zurück in die Blinden-Führhundschule von Gerlinde Haag und ihrer Mitarbeiterin Juliana Vilbusch, wo dann der tierische Ernst des Lebens beginnt. Während der Ausbildung lernen dann auch schon die blinden Bewerber ihren potenziellen Helfer das erste Mal kennen. "Dabei erkenne ich relativ schnell, ob die Chemie zwischen Mensch und Hund stimmt", so Gerlinde Haag, die nach Abschluss der Ausbildung dann für zwei bis maximal vier Wochen zu dem neuen Besitzer reist, um die Einarbeitung des tierisch-menschlichen Duos vor Ort zu begleiten. Der endgültigen Schlusspunkt unter die erfolgreiche Ausbildung wird durch die sog. Gespannprüfung gesetzt. Dabei wird u.a. das Verhalten in verschiedenen Alltagssituationen bewertet und Fragen überprüft wie "Kann der Besitzer mit seinem neuen Hund umgehen?" oder "Folgt der Hund den Signalen seines neuen Besitzers?"
Wird die Prüfung erfolgreich bestanden, verliert der Hund endgültig seinen Status als Hund und wird zu einem "Hilfsmittel", das weitaus mehr Rechte hat als ein normaler Vierbeiner. "In seiner Funktion als Blinden-Führhund darf der Hund zusammen mit seinen Besitzer z. B. in einen Supermarkt, eine Arztpraxis oder auch ins Krankenhaus begleiten, ansonsten alles No Go's für einen Hund", weist Gerlinde Haag auf die Privilegien hin, die der Hund aber nur genießt, wenn er mit seinem blinden Besitzer und im Führgeschirr unterwegs ist - in der übrigen Zeit darf der Hund dann doch wieder ganz Hund sein!

Autor:

Christoph Schulte aus Hemer

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