BSG verwirft drei 100%-Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher

Nach 4 ½ Jahren verurteilte das Bundessozialgericht am 23.06.2016 drei 100%-Sanktionen als rechtswidrig: „Keine Bewerbungsbemühungen ohne Bewerbungskostenübernahme“ lauten einige Titel in den Pressemitteilungen. (B 14 AS 26/15 R, B 14 AS 29/15 R, B 14 AS 30/15 R)

Und auch der Tenor im Terminsbericht Nr. 25/16 des BSG lag eindeutig auf dem Thema „Eingliederungsvereinbarung (EGV)“. Tatsächlich ging es in der Entscheidung aber um drei 100%-Sanktionen gegen einen Kläger im Vollstreckungszeitraum von nur einem Jahr, nämlich in der Zeit vom Dezember 2011 bis November 2012. Nur in den Monaten März, April und Mai 2012 erhielt der Geschundene wohl seine Regelleistung.

Einblicke in ein krankes System

Die Urteilsbegründungen des Hessischen Sozialgerichts als der 2. Instanz, Az.: L 6 AS 134/14 vom 13.05.2015 (L 6 AS 133/14; L 6 AS 132/14) geben einen tiefen Einblick in die Umstände der menschenverachtenden und verfassungsrechtlich höchst umstrittenen Sanktionspraxis der Jobcenter (hier: Jobcenter Stadt Kassel).

Dem erfolgreichen Kläger war über Jahre auferlegt worden 10 Bewerbungen im Monat zu unternehmen und diese jeweils mit Fristsetzung „bis zum 16ten eines jeden Monats, durch Kopien der schriftlichen Bewerbungen und/oder durch Antwortschreiben der Arbeitgeber, unaufgefordert vorzulegen.“ Aktenkundig war der Umstand, dass der Kläger über keinen eigenen Computer verfügte und jedes Mal Geld für Fahrkarten und Internetcafé benötigte, um seinen Auflagen nachzukommen.
Das Jobcenter beanspruchte für sich selbst eine Nachbesserungsklausel von 4 Wochen: „Kommt der zuständige Träger seinen in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten nicht nach, ist ihm innerhalb einer Frist von 4 Wochen das Recht der Nacherfüllung einzuräumen.“
Dem Kläger wurde nicht die geringste Chance zur Abhilfe gewährt. Auch damals nicht, als er im Rahmen einer Anhörung seine nur verspätete Abgabe damit begründete, dass seiner Mutter im Krankenhaus ein Fuß amputiert werden musste und er dadurch anderweitig gefordert war.

Leben ohne Geld

Sämtliche Argumente des Erwerbslosen wurden ignoriert, die erste Leistungseinstellung zum Dezember 2011 bis Februar 2012 wurde vollstreckt, der Widerspruch wurde mit Bescheid vom 09.01.2012 verworfen. Das Jobcenter bewilligte Lebensmittelgutscheine zur Disziplinierung und Demütigung. Darüber hinaus forderte das Jobcenter aber auch weiterhin 10 Bewerbungsnachweise von dem „Mann ohne Geld“.

Der Weg durch die Instanzen

Erst am 13.02.2012 wurde beim SG Kassel Klage eingereicht. Es folgten weitere Sanktionen, Widersprüche und am 03.09.2012 und 26.10.2012 weitere Klagen.
Am 23.01.2014, also fast zwei Jahre später, entschied das SG Kassel zugunsten des Klägers und hob alle drei Widerspruchbescheide auf.

Geld gab es dennoch nicht. Das Jobcenter Stadt Kassel ließ im Auftrag des verantwortlichen Geschäftsführer Stefan Schäfer Beschwerde einlegen.

Wieder vergingen 14 Monate in denen Geschäftsführer Stefan Schäfer die Existenzsichernden Sozialleistungen des Erwerbslosen zurückhielt. Damit nicht genug. Als das Hessische Landessozialgericht am 13.05.2015 die erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigte und ebenfalls die Widerspruchsbescheide verwarf, forderte Schäfer von seiner Widerspruchstelle ein weiteres Berufungsverfahren, diesmal vor dem Bundessozialgericht.

13 Monate später bestätigte nun auch das BSG die beiden Vorentscheidungen und erklärte alle Sanktionsbescheide für rechtswidrig. Die Volltextentscheidung liegt noch nicht vor.

EGVs des Jobcenter halten der gerichtlichen Prüfung nicht stand

Nicht nur im Jobcenter Stadt Kassel genügen die Eingliederungsvereinbarungen nicht den rechtlichen Bedingungen.
Auch im Märkischen Kreis werden überwiegend nicht rechtskonforme EGVs vorgelegt.

BSG: Eingliederungsverträge kompetent und unverständlich

Wer den folgenden Original-Text nicht versteht, sollte künftig keine EGV mehr unterschreiben und gegen alle Verwaltungsakte Widerspruch einlegen lassen. Und wer den Text versteht, wird vermutlich nicht unterschreiben . . .

Im Terminbericht heißt es:

„Maßstab für die Inzidentprüfung der Eingliederungsvereinbarungen als Grundlagen der streitbefangenen Feststellungen weiterer wiederholter Pflichtverletzungen des Klägers und des vollständigen Entfallens des Alg II für drei Monate ist das Recht der öffentlich-rechtlichen Verträge nach §§ 53 ff SGB X, denn Eingliederungsvereinbarungen sind öffentlich-rechtliche Verträge in der Form des subordinationsrechtlichen Austauschvertrags. Danach sind Eingliederungsvereinbarungen wirksam, wenn sie nicht nichtig sind. Sie sind über die Prüfung, ob Nichtigkeitsgründe vorliegen, hinaus nicht auch daraufhin zu prüfen, ob sie rechtswidrig sind.

Nach diesem Maßstab liegt hier jeweils bereits die Nichtigkeit der Eingliederungsvereinbarungen wegen eines qualifizierten Rechtsverstoßes gegen ein gesetzliches Verbot iS des § 58 Abs 1 SGB X iVm § 134 BGB durch einen Formenmissbrauch nahe. Denn die Eingliederungsvereinbarungen bedienen sich zwar der Form des öffentlich-rechtlichen Vertrages, sie lassen aber nach ihrem Inhalt nicht erkennen, dass sie dem mit § 15 Abs 1 SGB II verfolgten gesetzgeberischen Regelungskonzept entsprechen. Weder ist ersichtlich, dass sie auf den Leistungsgrundsätzen des § 3 Abs 1 SGB II beruhen, insbesondere die Eignung und individuelle Lebenssituation des Klägers berücksichtigen, noch dass sie individuelle, konkrete und verbindliche Leistungsangebote zur Eingliederung in Arbeit als grundsätzlich notwendige Bestandteile einer Eingliederungsvereinbarung enthalten. Insoweit genügen indes die Feststellungen des LSG insbesondere zu den individuellen Verhältnissen des Klägers und zu den Erfahrungen aus bisherigen Eingliederungsbemühungen nicht, um abschließend entscheiden zu können.

Gleichwohl bedurfte es hier keiner Zurückverweisung zur Nachholung dieser Feststellungen, denn die Eingliederungsvereinbarungen sind jedenfalls deshalb insgesamt nichtig, weil sich der Beklagte entgegen dem sog Koppelungsverbot nach § 58 Abs 2 Nr 4 SGB X vom Kläger unzulässige Gegenleistungen iS des § 55 SGB X hat versprechen lassen.“
BSG

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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