Die Lüge mit dem Bildungspaket

Nach Einschätzung von Sozialverbänden und namhaften Sozialrichtern erfüllt das Bildungspaket in der vorliegenden Form die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts nicht. In der Entscheidung vom 09.02.2010, Az.: 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09 wurde der Bundesregierung eine klare Aufgabe gestellt, sie müsse veranlassen, dass alle existenznotwendigen Aufwendungen realitätsgerecht und nachvollziehbar ermittelt werden.
In der Entscheidung heißt es: „Der Gesetzgeber kann den typischen Bedarf zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums durch einen monatlichen Festbetrag decken, muss aber für einen darüber hinausgehenden unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarf einen zusätzlichen Leistungsanspruch einräumen.“
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl000109.html

Konkret fordert das Bundesverfassungsgericht also von der Bundesregierung eine wirklichkeitsnahe Ermittlung des existenziellen Grundbedarfs seiner Bürger und verpflichtet die Politiker diesen Grundbedarf gemäß dem Sozialstaatsgebot umzusetzen und dauerhaft verfügbar zu machen. Dabei hat der Gesetzgeber zunächst einen monatlichen Grundfestbetrag zu ermitteln. Darüber hinaus sind weitergehende Leistungen für spezielle Sonderfälle vorzusehen.

Diese Umsetzung ist jedoch nicht erfolgt, wie z.B. die Gutachten von Dr. Irene Becker und Prof. Johannes Münder überzeugend darlegen.
http://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2011_09_05.pdf

Inzwischen ist eine erste Verfassungsklage gegen das Bildungspaket anhängig.

1. Regierung ignoriert die Umsetzung des Urteils des BVerfG

Soweit die Bundesregierung nun das „Bildungspaket“ vom monatlichen Festbetrag abtrennt und von einer gesonderten Antragstellung für jede Einzelposition fordert, missachtet sie bereits offen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Arbeitsministerin Ursula Gertrud von der Leyen verkennt möglicherweise, dass Bildung in Deutschland eben doch noch nicht zu den „atypischer Bedarfen“ zu zählen ist. In der Regelleistung dieser Bundesregierung ist ein monatlicher Anteil für Bildung für Erwachsene mit 1,39 € ermittelt worden. Für Kinder im Alter von 6-7 Jahren wurde ein Bildungsetat von 0,98 € errechnet, 7-14 Jährigen stehen stolze 1,16 € zu Verfügung. Jugendliche im ausbildungsfähigen Alter von 15-18 Jahren sollten Ihren Bildungshunger mit monatlich gar 0,29 € stillen dürfen. Die Namen und Gehälter derjenigen Koryphäen, die diese Zahlen in „wissenschaftlicher Gründlichkeit ermittelt“ haben, wurden nicht veröffentlich.
Erst mit Blick auf die anhängig gemachte Verfassungsklage zur Regelleistung, wurde ein wieder nur willkürlich beziffertes Schulgeld von 100,00 € nachgelegt. Aber auch dies ist an weitere Bedingungen geknüpft worden.

2. Die „ALG-II-Erhöhungen“ bedeuten faktisch Kaufkraftverlust

„Laut dem statistischen Bundesamt erhöhten sich die Lebenshaltungskosten seit Einführung von Hartz IV zum 1. Januar 2005 bis Ende 2011 um 14,1 Prozent. In dieser Zeit wurde der Hartz-IV-Regelsatz von 345 auf 364 Euro, also um 5,5 Prozent erhöht, was nur 40 Prozent der offiziellen Preissteigerungen ausmachte.

Dazu kommt, dass die durchschnittliche offizielle Inflationsrate verfälscht, von welchen realen — weit höheren — Preissteigerungen die Arbeiter, Arbeitslosen und die Masse der Rentner betroffen sind. Die Preise für Massengüter und Lebensmittel erhöhten sich — wie die Statistiker ausrechneten — um 18,9 Prozent. (Lediglich bei Luxusgütern war die Teuerungsrate geringer. Anm.)

Demnach deckte die Erhöhung des Regelsatzes seit 2005 die tatsächliche Erhöhung der Lebenshaltungskosten für Hartz-IV-Bezieher, Aufstocker und Geringverdiener nur zu 29 Prozent ab.“
http://www.meinpolitikblog.de/alg-ii-erhhungen-bedeuten-faktisch-kaufkraftverlust

3. Zu jedem Kind gehören Eltern

Die meisten Medien titulierten zu Jahresbeginn eine Erhöhung der Hartz IV-Regelsätze um 10,00 €. In Wahrheit liegt der Neuberechnung eine massive Kürzung der Leistungen zugrunde. Ermöglicht wurde dies durch einschneidende Veränderungen in der Berechnungsgrundlage. Die tatsächlichen Streichungen und Kürzungen sind aber nur Wenigen bewusst. Hier eine Auswahl:

Tabelle 7: Güter und Dienstleistungen, die laut Regelbedarfermittlungsgesetz nicht regelleistungsrelevant sind:

Alkoholische Getränke, Tabakwaren, Chemische Reinigung, Motorbetriebene Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände für den Garten, Orthopädische Schuhe, Zahnersatz Materialkosten (einschl. Eigenanteile), Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen (einschl. Eigenanteile), Arztleistungen (einschl. Eigenanteile), ahnarztleistungen (einschl. Eigenanteile), Miete von therapeutischen Geräten, Dienstleistungen der Krankenhäuser (einschl. Eigenanteile), Anteilige Wartungen und Reparaturen für Kraftfahrzeuge und Krafträder, Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Betrieb von Privatfahrzeugen, Kommunikationsdienstleistungen – Mobilfunk/CB-Funk (auch Flatrate), Foto- und Filmausrüstungen, optische Geräte, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, Haustiere einschl. Veterinär- u. a. Dienstleistungen, Rundfunk- und Fernsehgebühren

(http://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2011_09_05.pdf, Gutachten Becker, S. 36)

Vor diesem Hintergrund ist das Argument, die Eltern laufen Gefahr, Leistungen aus dem Bildungspaket in Form von Bargeld zum Kiosk zu tragen, um Alkohol und Zigaretten zu kaufen, eine bodenlose Unverschämtheit.

Während mit dem Leyenschen Bildungspaket medienwirksam ein zunächst lediglich theoretischer Rechtsanspruch propagiert wird, wurden zeitgleich aber alle Transferleistungen an Erwachsene mit sofortiger Wirkung gekürzt. Da wurden Leistungen für Schreibwaren gestrichen, das Elterngeld wird künftig in voller Höhe bei Hartz-IV-Empfängern als Einkommen angerechnet, und die Eltern müssen einen Eigenanteil für die Mittagsverpflegung in Kitas zahlen. Außerdem werden keine Rentenzahlungen mehr angewiesen, was eine weitere Kürzung darstellt. Man hat also tatsächlich allen volljährigen Leistungungsberechtigten und damit auch bedürftigen Eltern viel Geld weggenommen, um Eltern einen kleinen Bruchteil davon in Form von Sachleistungen für ihre Kinder wieder zurückzugeben.

4. Sechs Leistungen, aber nur 1 Position „Bildung“

Die Leistungen umfassen:
1. Lernförderung (nur Nachhilfe, wenn die Versetzung gefährdet ist)
2. Mittagsverpflegung (falls Schule und KiTa dies anbieten)
3. Schulausflüge, Klassenfahrten
4. Schulbedarf (100,00 € Pauschale im Schuljahr, seit der Verfassungsklage)
5. Schülerbeförderung (zur nächst gelegenen, nicht Wunschschule, ab )
6. Soziale und kulturelle Teilhabe (max. 10,00 €/Monat Vereinsbetrag,)

Die Kürzungen bei den Eltern werden also nur in ganz geringem Umfang und unter hohen bürokratischen Hürden zurückerstattet. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass möglichst wenige Leistungsberechtigte überhaupt Anträge stellen und von den tatsächlich gestellten Anträgen möglichst viele abgelehnt werden können.

So müssen Antragsteller auf Lernförderung im Märkischen Kreis den Lehrern Ihrer Kinder ein bestimmtes Maß an Unfähigkeit attestieren:

„Ich (mein Sohn, meine Tochter) benötige (benötigt) außerschulische Lernförderung,
da die schulischen Angebote nicht für die notwendige Förderung ausreichen.“

Das vollständige Informationsmaterial zum Bildungspaket und die verschiedenen Antragsformulare bietet der Märkische Kreis auf sage und schreibe 45 Seiten Papier an. Die einzelnen Anträge sind für jedes Kind gesondert zu stellen.

Informationsmaterial zu Leistungen für Bildung und Teilhabe

Infoblatt: Allgemeine Informationen
Infoblatt: Lernförderung
Infoblatt: Mittagsverpflegung
Infoblatt: Schulausflüge, Klassenfahrten
Infoblatt: Schulbedarf
Infoblatt: Schülerbeförderung
Infoblatt: Soziale und kulturelle Teilhabe

Antragsvordrucke zu Leistungen für Bildung und Teilhabe

Lernförderung: Antragsvordruck
Lernförderung: Abrechnungsbogen
Lernförderung: Stellungnahme der Schule

Mittagsverpflegung Schule / KiTa: Antragsvordruck
Mittagsverpflegung Schule / KiTa: Abrechnungsbogen
Mittagsverpflegung Schule / KiTa: Schulbescheinigung

Schulausflüge / Klassenfahrten: Antragsvordruck

Schülerbeförderung: Antragsvordruck

Teilhabeleistungen: Antragsvordruck
Teilhabeleistungen: Bescheinigung Leistungsanbieter

http://www.arge-mk.de/Informationsmaterial.4.0.html

5. Das Bildungspaket - kaum mehr als ein Lottoschein?

Fairer Weise muss man der Bundesministerin für Arbeit und Soziales zugestehen, dass Sie auf dem Internetportal des Ministeriums auch nicht von einer „Bildungsversorgung“ oder einer gesicherten Zurverfügungstellung von Leistungen spricht, wie das Verfassungsgericht eingefordert hat. Vielmehr spricht Sie von „Chancen“, einem Begriff, wie wir ihn auch vom Glücksspiel kennen; von einem „Rechtsanspruch“, der allein denen vorbehalten bleibt, die davon überhaupt Kenntnis haben und von „Perspektiven“ . . .

Zitat:

Liebe Bürgerinnen und Bürger,

das Bildungspaket gibt 2,5 Millionen bedürftigen Kindern aus Geringverdienerfamilien mehr Zukunftschancen. Sie haben jetzt einen Rechtsanspruch auf Bildung und aufs Mitmachen.
Ab sofort können sie bei Sport, Musik oder Kultur dabei sein, an Schulausflügen und am gemeinsamen Mittagessen in Schule, Hort oder Kita teilnehmen. Sie bekommen das Schulmaterial, das sie brauchen, und die notwendige Lernförderung, wenn ihre Versetzung gefährdet ist. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Kreise und kreisfreien Städte, Jobcenter und ihre Partner vor Ort sorgen gemeinsam dafür, dass das Bildungspaket bei den Kindern ankommt.
Das Bildungspaket folgt der großen Leitidee: Chancen eröffnen. Darauf haben die Kinder ein Anrecht. Es lohnt sich, dass wir alle unsere Kraft für die Kinder und ihre Lebensperspektiven einsetzen. Dazu lade ich Sie herzlich ein.

Ursula von der Leyen,
Bundesministerin für Arbeit und Soziales
http://www.bildungspaket.bmas.de/

„Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf.
Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher.“
Bertolt Brecht

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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