Blättertanz

Ich saß auf dem Stuhl und hatte das Gefühl, ich würde auf glühenden Kohlen sitzen. Ständig rutschte ich unruhig hin und her und meine Blicke schweiften hinüber zum Fenster, wo die Sonne ihre hellen Strahlen ins Klassenzimmer warf. Ich konnte es nicht mehr abwarten, endlich hinaus auf den Schulhof zu dürfen und ihn wiederzusehen.
Ihn...Patrick...!
Schon der Gedanke an seinen Namen verursachte mir weiche Knie und ich spürte Schmetterlinge in meinem Bauch, die dort miteinander tanzten, sich durch die Luft wirbelten, miteinander eins wurden, und ich lächelte vor mich hin und vergaß alles um mich herum.
Meine Klassenkameraden, die dem Unterricht neugierig, verträumt, gelangweilt oder schlafend folgten, je nachdem in welcher Verfassung sie sich gerade befanden.
Elisa und Erik an dem Tisch neben mir unterhielten sich leise und hinter vorgehaltener Hand, Timo eine Sitzreihe vor mir spielte mit seinem neuen Smartphone und kicherte, als hätte er gerade eines von diesen Spielen gewonnen, die ich auch auf meinem Handy drauf hatte, wobei ich jedoch noch nie den Drang verspürt hatte, diese auch zu nutzen, Mark und Miriam bewarfen sich gegenseitig mit weißen Papierkügelchen, hin und her flogen diese zerknüllten,eigentlich zum Schreiben gedachten weißen Blätter, doch meine Lehrerin Frau Müller-Kemper stand mit dem Rücken zu uns Schülern gedreht und bekam nichts davon mit, sie versuchte krampfhaft und leider ohne den nötigen Erfolg, uns die mathematischen Regeln für den Satz des Pythagoras näher zu bringen und ergoss sich, während sie mit Kreide die Formeln an die Tafel schrieb, in ausführlichen Erläuterungen darüber.
"Bei einem rechtwinkligen Dreieck nutzen wir den Satz des Pythagoras, um Streckenlängen dafür zu berechnen..."
Ich schaltete ab, denn mir schwirrte schon jetzt der Kopf. "Rechtwinklig, Pythagoras, Streckenlängen? Oha, das kann doch nicht ihr Ernst sein..." waren meine ersten Gedankenk, bevor sie mich wieder dorthin zurückführten, wo ich jetzt am liebsten gewesen wäre, bei dem einen Jungen, der die Schmetterlinge in meinem Bauch wieder zum Leben erweckt hatte, der mir den Gedanken an das nächste Klingeln zur Pause so sehr versüßte, dass ich mir wünschte, ich würde seine Lippen auf den Meinen spüren und mich unendlich in diesem Kuss verlieren, nie mehr aufhören, sondern diesen Augenblick, der nur für uns geboren wurde, in meinem Herzen festhalten.
Für immer.
Erneut rutschte ich unruhig hin und her und hielt plötzlich inne, als Frau Müller-Kemper sich doch dazu bequemte, uns Schülerinnen und Schüler einmal anzuschauen und Mark aufzurufen, da dieser seine Hand in die Höhe gestreckt hatte und fast genauso unruhig auf seinem Platz hin und her gerutscht war wie ich.
"Ja, Mark, hast du eine Frage zu dem Satz des Pythagoras?", fragte Frau Müller-Kemper in einem sachlichen Ton und blickte über den Rand ihrer Brille aufmerksam zu dem Jungen hinüber.
"Nein Frau Müller-Kemper", erwiderte Mark, dessen feuerroten Haare zu allen Seiten hin abstanden, und er erhob sich von seinem Stuhl, "ich wollte wissen, ob ich eben aufs Klo kann?"
Der Blick, den unsere Lehrerin Mark zuwarf, hätte jeden anderen von uns klein in sich zusammen sinken lassen, jeder andere wäre auf der Stelle umgefallen und erst wieder aufgestanden, wenn er die Frage vergessen hätte, nicht jedoch Mark.
Mark erhob sich von seinem Platz, kniff seine Pobacken zusammen und stellte seine Füße zu einem Kreuz nebeneinander, während er bittend zu Frau Müller-Kemper hinauf starrte und darauf wartete, dass unsere Lehrerin ihn endlich aufs Klo gehen lassen würde.
Ihre Lippen kräuselten sich, ihre Stirn schlug unzählige kleine Falten, die sich erst wieder glätteten, als sie sagte: "Ja, Mark, dann beeil dich aber bitte. Deine Mitschüler können dir ja hinterher erklären, was du verpasst hast!"
Und Mark stürzte aus dem Klassenzimmer hinaus wie ein Ertrinkender, der nach einem Rettungsring griff.
"Was Patrick wohl gerade macht?", fragte ich mich plötzlich, weil mir gerade eingefallen war, dass ich ein paar Minuten lang nicht an ihn gedacht hatte.
"Wer von euch kann mir das beantworten?", hörte ich Frau Müller-Kemper wie durch einen Nebelschleier hindurch sagen und ich bemerkte, dass ich keine Ahnung hatte, was genau sie gefragt hatte.
Und immer, wenn ich mal nicht aufpasste, folgte die Strafe prompt: "Hannah, kannst du mir das beantworten?"
Ich zuckte zusammen, schaute meine Lehrerin ganz entsetzt an, versuchte einen Ton zu sagen, versuchte die missliche Lage, in der ich mich gerade befand, doch noch irgendwie zu meinen Gunsten zu drehen, als Rettung in anderer Form nahte.
"Ding, dang, dong"- Die Schulklingel zur Pause ertönte und ich stürmte hinaus auf den Schulhof und blieb Frau Müller-Kemper eine Antwort schuldig.
Draußen wehte ein leichter Wind, der mich gefangen nahm, sich um mich legte und die roten, grünen, orangefarbenen und braunen Blätter zum Tanzen brachte.
Und da stand er plötzlich, inmitten der tanzenden Blätter, die uns umgarnten und gefangen nahmen, wie eine Erscheinung, wie eine Blätter-Fatamorgana, doch es war keine Einbildung.
Er war echt.
"Patrick!", rief ich überglücklich, rannte auf den Jungen zu und spürte, wie seine Arme mich umfingen.
Während der Tanz der Blätter um uns herum weiter ging, küssten wir uns und ich hörte, wie er leise in mein Ohr flüsterte: "Kam dir der Unterricht auch so unendlich lange vor, Hannah?"
Ich konnte nichts weiter tun, als zu nicken, denn erneut verschloss sein Kuss meine Lippen und ich wusste, dass dieser Moment nicht ewig währen würde, denn bald schon würde es zum nächsten Unterricht klingeln.
Aber sobald der Blättertanz erneut einsetzte, wusste ich, dass ich Patrick wiedersehen würde, denn der Tanz der Blätter zeigte mir, dass der Unterricht bald vorbei sein würde.
Nach dem Unterricht würden Patrick und ich mehr Zeit füreinander haben, denn heute war Freitag.
Das Wochenende stand vor der Tür.
Und hoffentlich würden die Blätter am Wochenende noch oft genug für uns tanzen...

Autor:

Mayte Hafenmayer aus Iserlohn

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