Wenn eine Hausaufgabe zur Lebensaufgabe wird

Ein tolles Team: Cem Colak (li.) und Fatih Akalin.  „Wir haben beide soviel voneinander gelernt“ sagt Colak „und nebenbei hab ich mein ‚Urlaubs-Türkisch‘ auch einmal auf Vordermann gebracht.“
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  • Ein tolles Team: Cem Colak (li.) und Fatih Akalin. „Wir haben beide soviel voneinander gelernt“ sagt Colak „und nebenbei hab ich mein ‚Urlaubs-Türkisch‘ auch einmal auf Vordermann gebracht.“
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Im Grunde hat alles mit einer Studienarbeit begonnen. Pflichtaufgabe während eines jeden Studiums, oft lästig, schnell geschrieben. Doch in diesem Fall war alles ganz anders.

Das Thema der Arbeit: Maria Montessori. Einer der bemerkenswertesten Menschen in der Geschichte. Eine Frau voller Mut, Ambition und Überzeugung. Den meisten Deutschen ist sie wohl vor allem in der vorschulischen und schulischen Ausbildung von Kindern ein Begriff. Dass ihr Wirken und ihre Theorien jedoch auch in der Pflege von Menschen mit altersbedingter Demenz Anwendung finden, ist nur wenigen bekannt. Dabei ist das Konzept, durch die Beschäftigung mit dafür vorgesehenen Materialien die kognitiven Fähigkeiten des Erkrankten zu trainieren, bewährt wie einleuchtend.

„Gerade Menschen, die beginnen, sich fortschreitend ‚selbst zu verlassen‘, können über die haptische wie kog-nitive Beschäftigung den Krankheitsverlauf in seinem Fortschreiten mäßigen“, sagt Cem Colak, der sich mit dieser Form der Erkrankung schon seit geraumer Zeit intensiv beschäftigt.
Der gelernte Altenpfleger arbeitet in der ambulanten Beatmungspflege, nebenbei studiert er berufsbegleitend Pflegepädagogik an der Fliedner-Fachhochschule in Düsseldorf-Kaiserswerth und erteilt selbst Seminare am Fachseminar für Altenpflege in Kamp-Lintfort.

Im Rahmen seiner Studienarbeit stieß er dann auf das pädagogische Betreuungskonzept „NonnaAnna“, das von Bianca Mattern in Neustift erstmals in Form eines zertifizierten Pflegeheims etabliert wurde. In diesem Heim wird speziell mit Materialien gearbeitet, die sinnesorientiert funktionieren, die also eine Kommunikation ermöglichen, die nicht auf Intellekt und Sprache basiert. Diese Arbeit fördert die kognitiven Fähigkeiten und ist für erkrankte Menschen mit unterschiedlichstem Potenzial an Denkvermögen geeignet. „Die Materialien wirken sich zusätzlich beruhigend auf die Psyche der Menschen aus“, erklärt mir Colak, der für seine Studienarbeit eigens den weiten Weg nach Passau auf sich genommen hat, um mit Bianca Mattern persönlich in Kontakt zu treten. „Ich war einfach davon überzeugt, dass diese Methode so viel für die Menschlichkeit im Rahmen der Altenpflege tun kann, dass ich mich hierfür weiter einsetzen wollte.“
Daher auch die mutige Entscheidung, ein Auslands-praktikum in Soma, einer kleinen Stadt im Westen der Türkei, nahe der Stadt Izmir, zu absolvieren, in der sich die theoretischen Grundlagen im Bereich der Pflegepädagogik gegen Null bewegen. „‚Satt und sauber‘ ist die Methode, nach der hier verfahren wird, dabei gibt es Personal genug,“ sagt Colak betroffen. „In einem Heim mit 55 Bewohnern gibt es sage und schreibe 44 Mitarbeiter, der reinste Luxus, wenn man an so manches deutsches Heim denkt.

Cem Colak kämpft für mehr Menschlichkeit in der Altenpflege

Und dennoch: Anstatt mit den Menschen zu arbeiten, sie zu beschäftigen, prangen unzählige LCD-Fernseher an den Wänden, die pausenlos die Bewohner beschallen. Verantwortungsvoll und gut ist das nicht. Auch die angeschlossene psychiatrische Anstalt ist trostlos und nach unserem Stand defizitär. „Das Schlimmste war die sogenannte ‚Intensivstation‘. Das war der reinste Hochsicherheitstrakt, wo die Menschen untergebracht wurden, deren Verhaltensauffälligkeit in Aggression mündete. Dabei hätte man mit dem richtigen Beschäftigungskonzept und der richtigen Methode diese Menschen problemlos in die Gruppe integrieren können. Dennoch muss man sagen, dass die Mitarbeiter mit sehr viel Empathie und Tatkraft zu 100 Prozent für die Bewohner da waren.“
Wahrscheinlich war das der Moment, wo Cem Colak für sich entschied, dass er es mit dem Auslandspraktikum nicht auf sich bewenden lassen konnte. Dort gab es zu viele Missstände, was ihn bewog, die ersten Testreihen mit den mitgebrachten Montessori-Materialien durchzuführen. Dabei konnte er schnell feststellen, wie positiv gerade die psychisch erkrankten Menschen darauf reagierten. Ein Junge, der nach Aussage der Einrichtung als „aus-therapiert“ galt, der sieben Jahre weder gesprochen noch gelacht hatte, begann zu sprechen. „Als dieser Junge mich anlachte und zum ersten Mal nach so langer Zeit sprach, wusste ich, dass dies der richtige Weg ist.“

Zusammen mit Bianca Mattern, Eva Popp, Diplom-Pädagogin und Coach von „NonnaAnna“, und dem Psychologen Fatih Akalin entwickelte Cem Colak einen Projektleitfaden, der Stiftungsgelder in Höhe von 50.000 Euro sichern sollte, die eine komplette Umstrukturierung der Pflegeeinrichtungen ermöglichen würden. „An die 120 Mitarbeiter werden dann geschult, erlernen die theoretischen und praktischen Methoden, wie man im Sinne Montessoris die Heimbewohner pflegt. Aber auch Basics, wie die Etablierung eines Biographiebogens, einer Pflegeplanung und einer Prozesspflege stehen auf dem Programm. Es ist einfach wichtig, die biographischen Daten eines Patienten zu erheben. Man muss als Pfleger wissen, was der Patient gerne isst, was ihm Freude macht, welche Filme er gerne schaut oder welche Musik ihn glücklich macht.“ Denn der Schritt von einer einheitlichen Pflege zu mehr Individualisierung im Pflegebetrieb bildet schließlich erst die Grundlage dafür, dass Menschen spezifisch gefördert und gepflegt werden können. Hauptziel des Projektes ist, so Colak, „die Intensivstation abzuschaffen“.

Am 8. März entscheidet die türkische Stiftung „Zafer“, ob die Gelder bewilligt werden oder nicht. Dabei ist jetzt schon klar, dass diese einmalige Gelegenheit nicht auszuschlagen ist. Denn dieses Pilotprojekt könnte in der Türkei Schule machen. Ganz Soma ist in einer einzigen Euphorie, dass hier ein so wichtiger Schritt zu mehr Menschlichkeit getan wird. Und natürlich ist auch die Familie des türkisch stämmigen Colak in Deutschland mächtig stolz auf ihren Spross, der sich mit soviel Herz, Mut und Engagement dieser Sache verpflichtet hat. Nebenbei kümmert sich der Kamp-Lintforter um seine Frau und seine zwei Töchter, die allerdings bis zum Ende des Jahres auf ihren Papa des Öfteren verzichten müssen. Denn bis das Projekt abgeschlossen ist, wird Colak neben seinen bisherigen Verpflichtungen einmal pro Monat für zehn Tage in die Türkei fliegen, um das Projekt zu betreuen.

Lukrative Aussicht: Sollten von türkischer Seite Anfragen für weitere Zertifizierungen von Pflegeeinrichtungen oder Mitarbeiterschulungen gestellt werden, ist Cem Colak Franchise-Partner und Repräsentator des Konzepts „NonnaAnna“ in der gesamten Türkei. Faszinierend, wie eine Studienarbeit eine ganze Stadt verändern kann.

Autor:

Regina Katharina Schmitz aus Dinslaken

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