Die ganze Stadt ist moersifiziert!*

Dub Trio | Foto: moers festival
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Tim Isforts Einstand beim moers festival mit neuen Ideen
* moersifizieren (englisch: to moersify) = mit dem moers festival – Virus infizieren

Das 46. moers festival an Pfingsten brachte dem komplett neuen Festivalteam mit dem künst-lerischen Leiter Tim Isfort und dem Geschäftsführer Claus Arndt einen traumhaften Einstand. Nach nur fünf Monaten Vorbereitungszeit wurde nicht nur ein überzeugendes Programm in der Festivalhalle geboten, sondern auch zahlreiche Neuerungen gewagt. Neben den 24 Konzerten in der Halle fanden 72 Auftritte in der Innenstadt (Schlosstheater, Peschkenhaus, Röhre, Bollwerk, Rathaus, St. Josef Kirche, Adolfinum, Filder Benden, Musikschule, Atlantic Kino), im Schlosspark (Nepix Kull), am Bettenkamper Meer sowie im Festivaldorf auf einem Dorfplatz statt, die, bis auf wenige, kostenfrei waren. Des Weiteren boten diverse Geschäfte und Gastronomiebetriebe ihre Flächen für Aufführungen zur Verfügung, um den Moersern einen spontanen Einblick in die meist ungewohnte Musik zu bescheren.

Viele der in der Festivalhalle aufspielenden Künstler machten diese Konzerte möglich, da sie aus Verbundenheit zum Festival, aus Neugier und um die Moerser kennen zu lernen, zwei-, drei- gar viermal auftraten. Und wieder einmal formierten sich neue Konstellationen, weil Musikerin A Musiker B bei dessen Auftritt hörte und man sich zum gemeinsamen Improvisieren einlud.

Unter besonderem Fokus standen in diesem Jahr Musiker aus dem Nachbarland Belgien, speziell aus der Region Flandern und der Niederlande. „De Beeren Gieren“ brachten am Freitagabend als erstes das Publikum in der Festivalhalle zum Kochen. Das Trio in der klassischen Besetzung Piano, Bass und Schlagzeug überraschte immer wieder mit wechselnden Melodien und Rhythmen und schufen in langen Sequenzen sphärische Klanglandschaften. Carolin Pook, die letztjährige Improviser in Residence, verband zwei unterschiedliche Welten in der Musik, ein Streichquartett, in dem sie selbst Violine spielt und „Spacepilot“, ein Gitarre-Synthesizer-Schlagzeug-Trio. Pooks Komposition forderte ein Wechselspiel der „Vier-gegen-Drei“ heraus, moderne Klassik mit Rock und Elektronik – großartig! Der aktuelle Improviser in Residence, Trompeter John Dennis Renken, eröffnete den Samstag mit seinem exklusiv für Moers geschaffenen Ensemble „Tribe“. Das Quintett sorgte sofort für ein volles Haus, denn ihr Groove nahm jeden mit, die grandiosen Soli der Einzelnen wurden begeistert beklatscht. Das Quartett „ADHD“, auf Deutsch ADHS, zeigte wieder einmal, welche musikalische Power aus dem kalten Island kommt. Ihren ausbalancierten Klangkaskaden - schnell, langsam, verzerrt, glasklar – schreiben sie eine therapeutische Wirkung zu. Malte Jehmlich malte dazu an einem Zeichentisch live und frei improvisierend Figuren, die auf die Bühnenwand projiziert wurden.

Das Dub Trio hob am Samstagabend ab und nahm die Zuhörer mit auf einen Crossover-Trip aus Rock, Punk, Metal, Elektronik und Überraschung, Anleihen aus dem Reggae. Nach einem einstündigen Rave tobte das Haus und sie mussten noch dreimal zurück auf die Bühne. Anschließend spielte der moers-festival-Altmeister Anthony Braxton mit seinem ZIM Sextett. Zu seinem zehnten Besuch bot der Saxophonist zwei Musikerinnen an der Harfe auf, die seine komponierten Harmonien klassisch umsetzten. „Rubatong“ aus den Niederlanden traten zum ersten Mal in Deutschland auf, deren Mischung aus Blues, Jazz, Punk und Impro sie selbst als „mal langsam, berührend und fließend, manchmal dreckig, laut und heftig“ deklarieren.

„The Bad Plus“ aus den USA erfreuten die Besucher mit für Moerser Verhältnisse Außergewöhnlichem, mit „normalem“ Jazz. Brillant vorgetragen, technisch, kompositorisch und mit Verve, brachten sie die Besucher mit zwei Adaptionen zum Schmunzeln: „Time After Time“ von Cyndi Lauper und „Die Roboter“ von Kraftwerk. Nach Auftritt des belgischen Quartetts Cocaine Piss kann man es sagen: Punk is not dead, pures Losdonnern, Vollgas und keine Gnade, Sängerin Aurelie Poppins schrie, was die Stimmbänder hergaben. Die Dänin Mette Rasmussen als Gast unterstützte die Combo mit ekstatischem Saxophonblasen in bester Free Jazz Manier. Nach 25 Minuten völliger Verausgabung tobte der Saal.

Die Europapremiere von „Vogelfrei“ und die Weltpremiere von „Contemporary Chaos Practices“, ein Kompositionsauftrag des moers festival an Inge Laubrock, der Improviser in Resi-dence 2012, waren die Highlights des Montags. Die zwei Werke wurden von 45 Musikern und Sängern, unter anderem mit dem EOS Kammerorchester Köln, und zwei Dirigenten uraufgeführt. Ergebnis: lang anhaltender Beifall.

Das moers festival hat ein neues Team und mit Tim Isfort einen künstlerischen Leiter, der das Festival seit Kindheitstagen kennt. Er weiß, wie das Festival „tickt“, er weiß auch, welche Kämpfe es bislang um das Festival gab. Nun hat er, der Team-Player, es innerhalb kürzester Zeit geschafft, ein Team zusammen zu führen, dass seit Dezember Tag und Nacht für diese vier Tage Pfingsten schuftete. Mit Claus Arndt hat Isfort einen Stadt-/Politik- und Verwaltungskenner an Bord, der auch seit Jugendtagen für das Festival brennt. Diese Kombination funktioniert, Tim Isfort & Team schafften es, in knapp vier Monaten ein absolut hochwertiges Musikprogramm zusammen zu stellen, das verspricht für die Zukunft viel. Die Musik in der Innenstadt brachte das Festival den Moersern wieder nahe, man geht wieder zum Festival, nicht in den Schlosspark, sondern durch den Schlosspark, wo ebenfalls Musiker spielten. Man geht nicht Hippies auf der Wiese gucken, sondern im Festivaldorf einkaufen, essen und trinken und hat Spaß. Das Festival lebt und entwickelt sich weiter, durch die Macher, durch die Zuhörer, durch die Musiker. Wieder einmal äußerten sich die vielen Tonkünstlern aus allen Erdteilen begeistert über das Publikum, als sie von der Bühne kamen: das seien auch Künstler, Künstler im zuhören, emphatisch, mitgehend, fordernd und bereit, sich jederzeit auf die neuesten Einflüsse der Jazz- und Impro-Szene einzulassen.

Klaus Denzer

Autor:

Klaus Denzer aus Moers

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