Mit dem Rad zur Avantgarde - Festival-Experte Tim Isfort im Interview zum moers festival

Tim Isfort mit Musikern aus Myanmar. Foto: Volker Beushausen
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Der Moerser Musiker Tim Isfort, unter anderem bekannt durch sein Tim-Isfort-Orchester, beteiligt sich an der Debatte zum moers festival. Von 2009 bis 2012 war er künstlerischer Leiter des Traumzeit-Festivals in Duisburg und gründete dort 2013 das alternative Platzhirsch-Festival, was ihn auch zu einem Festival-Experten macht.


Wochen-Magazin: An welchen Projekten arbeiten Sie zurzeit?

Tim Isfort: Momentan bereite ich musikalische Kooperationen mit Musikern aus Myanmar, Belarus und Litauen vor, außerdem organisiere ich ein deutsch-niederländisch-belgisches Bandcamp für den Herbst. Dann entsteht da noch ein Album mit Christian Brückner und das Programm des Platzhirsch-Festivals rund um den Duisburger Dellplatz. Und die Musik für unseren Auftritt beim Festival am Pfingstsonntag muss ich noch zu Ende schreiben ...

Wochen-Magazin: Ganz offen gefragt, was halten Sie von der derzeitigen Diskussion ums moers festival?

Tim Isfort: Ich finde sie destruktiv, denn das Infragestellen des Festivals ist ja bald so alt wie es selbst. In Zeiten immer austauschbarerer Innenstädte sollte auch der letzte Moerser Festivalgegner erkennen können, dass unsere kleine Grafschaft durch Wegfall oder Kaputtschrumpfen eines derartigen Ereignisses beziehungsweise immer weiteren Kürzungen bei den sogenannten „freiwilligen Leistungen“ im Kulturbereich am Ende nur noch Provinz sein wird. Uninteressant, langweilig!
Moers ist durch sein Festival weltweit bekannt geworden, durch sein Schlosstheater bundesweit renommiert. Dazu der Geist von Hüsch, das Comedy Arts, eine umtriebige junge Szene - damit ließe sich viel mehr machen: wirtschaftlich, touristisch - ein Mehrwert an Lebensqualität für die Bewohner. Die Zeiten, dass man sich vor Hippies oder schrägen Tönen glaubte fürchten zu müssen, sind doch wohl lange vorbei. Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Kulturschaffende sollten jetzt konstruktiv zusammenarbeiten und das, was Moers unverwechselbar macht, unterstützen, ausbauen und gemeinsam zelebrieren! Mutig, weltoffen und mit einer charmanten Portion Selbstbewusstsein. Dass der Einzelne mal diese Musik, jene Inszenierung oder sonst eine Veranstaltung nicht mag, ist doch klar - aber wir sind doch tolerant?

Wochen-Magazin: Es gibt Kritiker des jetzigen Standortes des Festivals und Kritiker des heutigen Programms. Bleiben wir beim Standort: Hat der Umzug in die Festivalhalle dem Event geschadet oder genutzt?

Tim Isfort: Das Festival begann im Schlosshof, klein und völlig innovativ. Dann Open-Air mit dem kleinen Segeldach über der Bühne, das Publikum auf der Wiese im Freizeitpark - hinter’m Bretterzaun. Später die wenig charmante Eishalle … Genau dort aber hat es mich als Jugendlichen gepackt: Ich konnte die Spitze der weltweiten musikalischen Avantgarde erleben: John Zorn, Arto Lindsay, David Moss, Heiner Goebbels … mit dem Fahrrad erreichbar! Und draußen Frank Köllges mit seiner „fahrenden Brotmaschine“. Danach: Ja, die Atmosphäre im Park war toll, auch im Zelt (wenngleich Akustik und Konzentration oft problematisch waren). Andererseits entfernten sich im Laufe der Zeit das Drumherum und der inhaltliche Fokus stark voneinander; der Anteil der Festivalcamper, die keine Eintrittskarte, keinen Zugang zum eigentlichen Programm hatten, wurde immer größer.
Dem Festivalinhalt kommt der neue Spielort sicherlich zugute, dem Event - wenn Moers es so begreifen möchte - muss man noch weiter helfen. Es darf noch mehr Spaß machen, den Weg dorthin zu suchen.

Wochen-Magazin: Wie haben sich für Sie als Musik-Profi die Programminhalte von Beginn an bis heute entwickelt? Ging man mit der Zeit? Ließ man Möglichkeiten liegen?

Tim Isfort: Burkhard Hennen hatte sehr früh den Mut, sich von Mainstream-Festivals abzugrenzen und besetzte mit Free, Avantgarde, Noise, Weltmusik eine Nische. Dadurch verdankt die kleine Stadt mit dem (für die meisten Menschen) schwer auszusprechenden Namen eine weltweite Bedeutung. Unter Hennens künstlerischer Leitung gab es Einblicke in die aktuellsten Entwicklungen in verschiedenen Ländern, Pulsgeber-Städten - aber auch völlig Überraschendes, Unerhörtes. Ich weiß noch, wie irritiert ich war, als der Turntable-Künstler Christian Marclay im Programmheft als Musiker auftauchte… ein „DJ" als Teil einer Band? Dann 1995 plötzlich wieder „Mainstream": Dave Holland Trio mit Herbie Hancock und Gene Jackson - ein Wahnsinnskonzert im Zelt! Reiner Michalke trat vor elf Jahren dieses breite Erbe an, in einer Zeit immer schnellerer verfügbarer Informationen, einem schier unendlich weit verästelten Baum von Stilen und Strömungen und einer viel größeren Festivallandschaft. Unter diesen Vorzeichen hat er es geschafft, dass das Festival international weiter höchste Anerkennung genießt. Ich denke, dass jeder künstlerische Leiter bemüht ist, am Puls der Zeit zu sein, Unerwartetes zu zeigen - auch wenn die Bedingungen oder Zeiten sich ändern. Natürlich (oder zum Glück) ist das subjektiv. Und immer angreifbar. Aber welches Festival kann schon von sich sagen, von Ostblock-Freejazz oder isolierten Musikkulturen über Legenden und dem heißesten Scheiß aus N.Y.C. bis hin zu Hip-Hop und düsterem Metal oder technoidem Zeug schon alles auf der Bühne gehabt zu haben?

Wochen-Magazin: Worin sehen Sie die Zukunft des Festivals? Wohin könnte die Reise jetzt noch gehen?

Tim Isfort: Weiter ein unverwechselbarer Impulsgeber zu sein. Was die Identifikation der Moerser mit ihrem Festival angeht, können wir viel von unseren europäischen Nachbarn lernen. In den Niederlanden zum Beispiel werden Kleinstädte kreativ belebt, der Hauptinhalt wird flankiert von Nebenprogrammen, Workshops, Branchentreffen und Konferenzen. Die Hotels sind ausgebucht, die Kneipen sind voll, auf den Straßen wird diskutiert, es gibt walk-acts. Neue Kooperationen und Partnerschaften, auch mit Unternehmen aus der Region, können das Festival lokal noch weiter verankern, regional bekannter und letztlich im Gesamten zu einem positiven Wirtschaftsfaktor machen. Die jungen Macher des gerade erfolgreich ins Leben gerufenen „Mojazz" setzen hier ein erfrischendes Zeichen.
Ein fauler Kompromiss aus Kürzungen, inhaltlicher Verflachung und politischer Duldung wird nicht lange funktionieren. Man braucht nur auf die andere Rheinseite zu schauen, wo ehemals hochkarätige Festivals visionslos in die Bedeutungslosigkeit befördert werden. Das muss man gemeinsam offensiv verhindern. Reiner Michalke ist hervorragend vernetzt und kann da sicherlich noch einiges beitragen - aber man braucht eben auch den spürbaren Willen der Stadt.

Wochen-Magazin: Kommen wir zum diesjährigen Programm: Welchen Gig empfehlen Sie Unentschlossenen?

Tim Isfort: Gar keinen einzelnen! Ich kann nur aus eigener Erfahrung jedem Moerser Zweifler empfehlen, sich einfach einmal ein Tagesticket zu gönnen, ganz egal, für welchen Tag. Nicht überlegen, welchen Quatsch man sonst für das Geld alles kaufen kann. Und sich mal auf diese musikalische Entdeckungsreise begeben.

Tim Isfort mit Musikern aus Myanmar. Foto: Volker Beushausen
"Aber welches Festival kann schon von sich sagen, von Ostblock-Freejazz oder isolierten Musikkulturen über Legenden und dem heißesten Scheiß aus N.Y.C. bis hin zu Hip-Hop und düsterem Metal oder technoidem Zeug schon alles auf der Bühne gehabt zu haben? ": Tim Isfort zum moers festival. Foto: Markus van Offern
Autor:

Harald Landgraf aus Dinslaken

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