Jetzt mal Hochdeutsch 3

Kein Grund zur Freude

„Hocherfreut zeigen wir die Geburt unseres ersten Enkelkindes Horst-Sascha an….“ So etwa steht es bei der Geburt in der Zeitung, Oma und Opa freuen sich – und du? Alles ist laut, alles ist grell, alles ist anders – du frierst, du hast Hunger, du bist gestresst und undicht…aber freuen?
So beginnt deine Karriere, in deren Verlauf man ein übers andere Mal von dir erwartet, ja verlangt, dass du dich freust.
Bald beugt sich die schlecht rasierte Großmutter oder – schlimmer noch- der nach üblem Tabac riechende Opa über dich, man macht alberne Geräusche und stellt dämliche Fragen, etwa „Ja, wo isser denn?“ – man freut sich, wenn du vor Wut strampelst und versuchst, sie mit Grimassenschneiden zu verjagen, sie merken nicht, wie peinlich dir das alles ist und wie lästig. Sie freuen sich! Aber du?
Wenn du anfängst, dich mit den Gegebenheiten abzufinden und dich in dieser Welt notdürftig einzurichten, erwartet man von dir, gern in die Kita zu gehen, gern mit einem Haufen blöder Schreihälse den Tag unter der Knute von Tante Barbara und Tante Aysche zu verbringen, deren vordringliche Aufgabe darin besteht, dich zu stören beim Nasebohren, beim Ameisenessen oder anderen wichtigen Tätigkeiten, die volle Konzentration erfordern. Immer wieder greifen sie dir in die Intimsphäre, um dir gegebenenfalls was Frisches zu machen, worauf du dich dann wiederum freuen solltest.
Bald schenkt Papa dir dann schon dein erstes tablet, mit dem du mühelos alle offenen Fragen klären kannst, außer: Warum darf ich nicht weiterhin den Handfeger an der Kordel hinter mir her durch die Diele ziehen. Aber nix da – hier wird sich gefreut! Basta!
Der erste Schultag, die Erste Heilige Kommunion – Freudentage! Wenn nicht die Aussicht auf dicke Geschenke wäre, könnte man sie kaum ertragen. Dann sind die Festtage gekommen, und statt der Hochleistungs- Inlineskater gibt es ein Junior Diving Equipment –aber freuen! Nee, ist klar!
Sicher ist ein Studienplatz in Sinologie was fürs Leben, aber du wolltest eigentlich Schrauber in der Kfz-Werkstatt studieren, doch da hat der Familienrat sein Veto eingelegt. Grund zum Freuen- aber für dich?
Irgendwann im Laufe der Jahre heißt es dann „…beehre mich, meine Vermählung mit Thusnelda, der Tochter der Familie Dingens anzuzeigen “ Beehren ja – Freuen???
Schließlich liest dann die Nachwelt im Wochenanzeiger: „über die vielen Zeichen der Anteilnahme …haben wir uns sehr gefreut“

Autor:

Paul Scharrenbroich aus Monheim am Rhein

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