Das Grab

„Klaus Weber“ stand in goldenen Buchstaben auf dem Stein aus dunkelgrauem Granit. Und das Datum seiner Geburt 17.08.1938 sowie das seines Todes am 18.08.2014.

Einen Tag nach seinem Geburtstag war er gestorben. Ihr Mann, ihr Liebster seit mehr als 50 Jahren.

Ihre Gedanken gingen zurück an jenen warmen, sonnentränkten Frühlingstag, als sie die ersten Sommerblumen in den Trümmern ihrer Heimatstadt pflückte. Etwas schönes, ein paar Klekse Farbe wollte sie in ihr einfaches Mädchenzimmer bringen, das sie als Lehrling eines Porzellanhändlers bewohnte.
Sie bekam kein Lehrgeld, dafür aber ordentliche Kleider, Essen und Unterkunft. Sie hatte keine Familie mehr. Die Familie ihres Lehrherren war ihre geworden. Sie kümmerte sich, immer wenn es ihre Zeit zuliess, um den kleinen Sohn, dem ein Bombenhagel ein Bein genommen hatte. Er war immer traurig und sass oft am Fenster um den anderen Kindern zusehen zu können, wenn sie Ball spielten oder Verstecken, oder auch einfach nur rauften und lachten.
Heute sass er in seinem provisorischen Rollstuhl neben ihr, und sie gab ihm die abgepflückten Blumen in die Hände, die er langsam und versonnen zu einem Strauss ordnete.
Ein junger Mann mit Struwwelkopf kam lächelnd auf sie zu und reichte dem Jungen ein Stück alte Schnur. „Damit kannst du sie zusammenbinden“, meinte er „und deine Schwester kann sie dann besser in eine Vase stellen!“
Der Geruch von Staub, Sonne, Wärme, Blumen und ihm, war sofort wieder in ihrem Kopf und liess alles so echt scheinen. Doch dann wurde der wohltuende Duft der Erinnerung von dem nassen, erdigen und fauligen Grabgeruch verdrängt.
Sie hatte ihren Namen und ihr Geburtsdatum schon in den Stein schreiben lassen. das letzte Datum, das ihres Todes, kannte sie auch schon.
Noch einmal wanderten ihre Gedanken zurück. An den Tag, an dem ihre Tochter geboren wurde. Und an jenen, als ihr Sohn zur Welt kam. Nur ein Jahr lag dazwischen und das Glück war gross. Inzwischen hatten sie den Porzellanhandel geerbt, denn der Sohn ihres Lehrherren hatte irgendwann beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Im Laufe der Jahre war er immer stiller geworden, immer einsamer.
Als die Schule beendet war, kam auch keiner seiner Klassenkameraden mehr zu Besuch. Was sollten sie auch mit ihm? Er konnte ja nirgends mithalten. So floh er in die Welt der Bücher, und blieb bald auch dort.
Beim Abendbrot sinnierte er noch eine Zeit über die Sinnlosigkeit alles Tuns, doch dann wurde er auch dort still.
Wenn er sprach, dann waren es zusammenhanglose Fetzen.
Die Eltern waren ratlos und bald galt er als Sonderling. Ärzte meinten, er leide an Melancholie und verschrieben ihm Schlafmittel gegen die Albträume. Später sagte man den Eltern, das er wohl die Tabletten gesammelt habe, und alle auf einmal geschluckt hatte.
Sie hatte auch Tabletten in ihrer Tasche. Viele verschiedene, denn ihr Mann hatte zuletzt starke Schmerzen gehabt. Sie hatte Schmerzmittel, Schlafmittel, Blutdrucksenker, Beruhigungsmittel, Herztabletten und viele andere in einer Dose. Mittel gegen Diabetes waren dabei. Und natürlich etwas für den Magen, denn sie wollte auch alles bei sich behalten. Irgendeines davon würde wohl dafür sorgen, das ihr Herz aufhörte zu schlagen, dachte sie bei sich.
Heute war ihr Hochzeitstag. Der 18. August! Im letzten Jahr waren es 50 Jahre gewesen, die sie verheiratet waren. als der 18 August zum 19ten wurde, hatte sein Herz aufgehört zu schlagen.
Bis dahin hatte er noch durchgehalten.
Noch einmal die Kinder und Enkel sehen, und noch einmal den schönsten Tag in ihrem Leben feiern.
Es ging ihm so gut an diesem Tag. So wie es oft vor dem Tod ist. Er schenkt einem noch ein paar gute Tage, bis er einen holt.
Sie merkte erst am Morgen, das er für immer schlief.
Die Kinder waren gekommen, und halfen ihr. Sie drängten sie aber auch, das Haus zu verkaufen. Es sei doch viel zu gross für sie alleine.
Sie kam sich abgeschoben vor, und sie sagte nichts darüber, das das Geld an die Bank ging, für all das, was sie hoffte, das es ihrem Mann geholfen hätte. Überall waren sie gewesen. Das hatte gekostet, und nun hatte sie Schulden. Geld das die Bank zurück haben wollte. Was übrig blieb reichte manchmal nicht fürs Essen, und zum Amt wollte sie nicht gehen. Die Kinder fragen kam schon garnicht in Betracht.
Inzwischen schlotterten ihre Kleider und sie hatte keine Kraft mehr. Die Freunde waren weg, mit denen sie hätte reden können. Das kannte sie ja schon, von dem Sohn ihres Lehrherren. Wenn es mühsam wurde, wurden auch die Freunde weniger, und irgendwann hatte man sich auch nichts mehr zu sagen.
Sie setzte sich auf die abgeblätterte, grüne Holzbank an Weg gegenüber des Grabes. Hier war wenig los. Sie war auf einem alten Teil des Friedhofes. Grosse Eichen, Birken und Platanen standen hier. Und Trauerweiden, ihre Lieblingsbäume! Sie hatten diese Grabstelle gekauft, weil es diese Trauerweiden hier gab. Hier lag auch ihre Ersatzfamilie.
Nach dem Tod des Sohnes, waren sie zu Oma und Opa für ihre Kinder geworden, und noch einmal richtig aufgeblüht.
Sie dachte, das ihr Leben zwar nicht immer einfach, aber trotzdem glücklich und voller Liebe war. Warum sollte sie es jetzt noch schlecht und einsam leben?
Sie nahm ein paar Kekse aus ihrer Tasche und eine kleine Flasche Wein. Dann suchte sie ein paar Tabletten aus der Dose zusammen, und schluckte sie mit dem Wein. Es wurde Abend und kein Mensch war mehr zu sehen.. Ein Frösteln überzog sie, wie man es kennt, wenn etwas Unbekanntes auf einen zu kommt. Sie zog ihre Jacke an.
Ein Schluck Wein vertrieb dieses Gefühl wieder. und ein Keks brachte Erinnerungen zurück. Eine Tablette nach der anderen wanderte fast unbemerkt in ihren Mund. Als der wein alle war, hielt sie die Flasche unter den Wasserstrahl eines der Brunnen, die wasser für die Gräber boten.
Langsam ging sie zurück, immer noch in den Träumen der Vergangenheit. Ein Teil ihrer Seele war schon auf die Reise gegangen.
Sie hatte keine Angst, keine Unruhe in sich. Da war nur das Gefühl, das Richtige zu tun. Ganz kurz überlegte sie wieviel anderen, einsamen Menschen es wohl so ging wie ihr? und ob sie alle so glücklich waren wenn sie diese Welt verliessen, wie sie es war? Doch ihr Kopf schob diese Gedanken beiseite, und ihre Hände liessen eine grosse Menge Tabletten in den Mund gleiten. Dann holte sie ein Bild aus ihrer Handtasche. Es war in einem Rahmen aus gehämmmerten Silber und zeigte die ganze Familie.
Die echte und die gewählte. Auch den toten „Bruder“.

Der Notarzt sagte am Morgen, als sie gefunden wurde:“ Ich habe noch nie so eine glückliche Selbstmöderin gesehen.!“ Er nahm ihren Abschiedsbrief, las ihn, und in stillem Einverständniss mit den Sanitäterin zerriss er ihn, und trug als Todesursache einen natürlichen Tod ein.
„Diesen Tod soll niemand mehr stören!“

Autor:

Claudia Jacobs aus Mülheim an der Ruhr

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