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EhrlichNRW: Von fremden Menschen und anderen Ungewöhnlichkeiten

Tomasz aus Wuppertal beteiligte sich am Wettbewerb EhrlichNRW. Foto: DB Regio NRW

Ich sitze im Zug von Bonn nach Wuppertal. In einem dieser alten Regionalbahn-Wagons. Die hohen, den Blick ins gegenüberliegende Vierer-Abteil versperrenden Sitzlehnen, mit ihren merkwürdigen grün-blau-gestreiften Sitzbezügen und den ledernen Kopfteilen, ergänzen sich hervorragend mit der grauen Schiebetür, die von Zeit zu Zeit auf und zu klappert, und dabei kontinuierlich einen kleinen Dunstschwall aus der benachbarten Board-Toilette ins Abteil schiebt.

Eine Mischung aus abgestandenem Urin und Chlor, fast wie im Babybecken eines beliebigen Freibades. Ich sitze einer schüchtern wirkenden Studentin schräg gegenüber. Vermutlich Mathe, 2. Semester. Das Buch mit der Aufschrift »Analysis II« verrät sie.

Eine schwankende Stimme fragt: "Hast du ein paar Cent?"

Weiter hinten eine merkwürdig schwankende Stimme, die in sporadischen Abständen fragt "Hast du ein paar Cent?", dabei aber keineswegs abgehalftert wirkt. Nach zwei Stationen steigt ein Pärchen dazu. Da alle zusammenhängenden Plätze im Abteil besetzt sind, rutsche ich nach links ans Fenster, damit sie wenigstens einander gegenüber sitzen können. Sie bedankt sich freundlich. Die beiden sind nicht älter als 25. Er ist Sportstudent, sowas sieht man einfach. Sie scheint einer Tätigkeit mit hohem organisatorischem Aufwand nachzugehen, oder möchte das zumindest vermitteln, da sie ihre Augen nur selten von ihrem Smartphone nimmt, dann wieder hastig etwas tippt, kurz aufschaut und ihrem Freund angenervt Sätze an den Kopf wirft wie »Boa, ich arbeite nur mit Vollidioten zusammen.«, »Der kann doch wohl einfach mal das Briefing lesen.«, »Das gibt es nicht, der ist gerade mal 33, vielleicht 35, so'n Langzeitstudent. Da kann man doch mal zwischendurch irgendwo in der Uni ins Netz.«.

Klingt mehr nach dem Aufruf eines Marktschreiers

Mir ist der Langzeitstudent irgendwie sympathisch. Ich erwische mich dabei Luft zu holen, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass es doch total schön wäre, das sonnige Wetter zu genießen und sich nicht schon vor der Arbeit von der selbigen stressen zu lassen. Ich kneif es mir dann aber doch. Der Drang sie zu schütteln lässt erst nach als sie in Köln-Süd aussteigen. Ich atme durch und versuche mich meiner Zuglektüre zu widmen. Wieder diese merkwürdige Sing-Sang-Stimme: »Hast du ein paar Cent?!«. Irgendwie klingt es mehr nach dem Aufruf eines Marktschreiers, denn nach der Frage eines Bedürftigen.

Inzwischen bin ich allein auf dem Vierer. Ich wechsele den Platz, um in Fahrtrichtung zu fahren und habe nun Einsicht in das Sitzkonglomerat zu meiner Linken: Mädchen mit ziemlich lautem R'n'B-Sound auf den Kopfhörern, zwei Jungs, der eine mit Trainingshose und Turnschuhen, die er lässig auf dem Sitz parkt, der andere mit Bürstenhaarschnitt und einem derartig strengen Blick, dass ich ihn durch den Sitz und seinen Hinterkopf erahnen kann. »Hast du ein paar Cent?!« plärrt es wieder aus der Ecke hinten rechts. Ein striktes »Machst du mich an, oder was?«, gefolgt von einem »Junge, mach bloß kein Scheiß!« bellt es aus Rockys Mund zurück. Die beiden anderen kichern. Am Kölner Hauptbahnhof steigen sie — so wie fast alle anderen Passagiere — aus.

Diedeldei oder Diedeldum aus "Alice im Wunderland"

Die Stimme wendet sich nun an mich. Endlich sehe ich auch wer denn da eigentlich die ganze Zeit nach ein paar Cent fragt. Ein dicklicher, wirklich süßer, irgendwie tapsig wirkender Riese mit Downsyndrom kommt auf mich zu: »Hast du ein paar Cent?«. Ich bezweifle, dass er wirklich auf ein paar Cent angewiesen ist, da er so gar nicht verwahrlost aussieht, eher wie »Diedeldei« oder »Diedeldum« aus »Alice im Wunderland«. Sein längsgestreiftes T-Shirt und die wirklich kurzen Haare unterstreichen diesen Eindruck. Ich gebe ihm das Kleingeld aus meinem Portemonnaie: Einen Euro und ungefähr 27 Cent in Kupfer. Den Euro bekomme ich mit dem wohl ehrlichsten Lächeln, dass ich seit langem gesehen habe, zurück.
Er setzt sich zufrieden auf seinen Platz zurück und steigt eine Station später aus. Erst als sich der stimmig gekleidete Pfandsammler (Argentinien-Trikot, passende türkis-karierte Shorts und Slipper), höflichst durch das Abteil fragt, und ich feststelle, dass er die bisher angenehmste Person ist, die an diesem Tag meinen Weg kreuzt, wird mir klar, dass die Menschheit wieder mal nur knapp 25 Minuten gebraucht hat, um mir das Gefühl zu vermitteln in der falschen Zeit geboren zu sein.

Wieso ich Euch das schreibe

Aller Verdrossenheit zum Trotz, frage ich mich jetzt natürlich wieso ich Euch das schreibe. Vielleicht weil ich kein Smartphone zur Hand hatte, um das Geschehen ausreichend zu dokumentieren. Vielleicht weil mir diese Zeilen jetzt schon rund zwei Stunden durch den Kopf hämmern und ich den Druck ablassen musste. Vielleicht weil ich eine Bahncard100 gewinnen will. Vielleicht aber auch nur um Euch zu bitten, dass, wenn ihr das nächste mal schon vor der Arbeit gestresst von der Arbeit seid, und anfangt wegen Kleinigkeiten über andere herzuziehen, Ihr Euch doch bitte einen Moment Zeit nehmt, einmal tief durchatmet, Euch bewusst macht, wie gut es Euch doch eigentlich geht, ein paar Augenblicke mit einem Menschen, der Euch viel bedeutet, verbringt, oder einem wildfremden Menschen ein bisschen Kleingeld in die Hand drückt. Das wirkt Wunder. Ich verspreche es.

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