Erst später wurde mir bewusst, dass der 8. Mai 1945 auch für mich ein Tag der Befreiung war

"Bei der Währungsreform im Sommer 48 wurde die Reichsmark 10:1 durch die DM ersetzt. Bis dahin ´blühte` der Schwarzmarkthandel. Die Läden waren fast leer. Es gab keine Ware. Oder sie wurde zurückgehalten, weil der Wert der Reichsmark rapide verfiel. Es galt die Zigarettenwährung. Die Ami, die amerikanische Zigarette, kostete zuletzt zehn Mark. Lebensmittel waren knapp. Überall herrschte der Mangel. Allein die reichen Bauern - das verbreitete der Neid – hätten nicht nur in ihren Wohnungen wertvolle Perser ausgelegt, dreifach, vierfach übereinander, sondern auch in ihren Ställen!

Dies war die eine Seite der ersten Nachkriegszeit. Auf der anderen waren die behelfsmäßig hergerichteten Konzert- und Theatersäle: sie waren voll, die Kinos ebenfalls; die Buchhandlungen, in denen, dicht gedrängt, Lesungen zugehört, diskutiert und versucht wurde, die seelische Hinterlassenschaft von Terror und Krieg loszuwerden. Da waren die vielen privaten und politischen Initiativen. Sie gingen daran, das kulturelle Getto, in das wir eingesperrt waren, aufzubrechen, Kultur von ihrem völkischen Korsett zu befreien und die Grenzen zu öffnen. Es waren zweieinhalb Jahre entfesselter Kreativität. Kunst, Literatur, Theater, Musik und der Tanz: die große Palucca! Strawinsky, Bartok, Anton Webern, Alban Berg, Schönberg, Hindemith, Benjamin Britten, Janácek, Martinu! Brecht! Heinrich und Thomas Mann, Stephan Zweig, Karl Kraus. Hans Henny Jahnn und Robert Musil. Kafka! Karl Jaspers, ja, auch Heine, auch Freud, auch Tucholsky! Dann die Gruppe 47 mit Richter, Nossack, Koeppen, Böll und die anderen. Die Maler: Nolde, Macke, Marc, Feininger, Kandinsky, Beckmann, Munch, Otto Müller, Paula Modersohn-Becker. Dali, Dufy, Van Gogh, Vlaminck und, natürlich: Picasso! Die Verpönten und Verbotenen. Die Verfolgten und Vertriebenen.

Ich hatte ihre Namen nie gehört. Für uns Jüngere war es eine Entdeckung neuer Welten. Und dann gab es die vielen privaten Zirkel Malender und Schreibender. Man hätte meinen können, wir seien wieder das Volk der Dichter und Denker. Waren wir nicht zuletzt das Volk der Richter und Henker? Jedenfalls: mit einem Schlag war das alles vorbei und verschwunden, als nach dem Tag X der Währungsreform am im Sommer 48 die Läden wieder voller Waren waren und die DM das Leben bestimmte. Ein Materialismus, wie ich ihn noch nie erlebt habe.“

[Aus: Dietrich Stahlbaum: Der Ritt auf dem Ochsen oder Auch Moskitos töten wir nicht, Aachen 2000, S. 44 f.]

Autor:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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