Weltrevolution? Politischer und religiöser Fundamentalismus – ein neuer Sozialismus? Beitrag vom 09. 05. 2009, immer noch aktuell

Ich habe mich schon zu lange mit erkenntniskritischen Fragen befasst, um in Wissenschaft und Politik nur eine einzige Theorie, eine einzige Ideologie, eine einzige Methode bevorzugen zu können. Denn auch wissenschaftliche Erkenntnis ist Interpretation + Logik/Mathematik.

(Marx und Engels gelten bekanntlich als Begründer des Wissenschaftlichen Sozialismus, aber auch die Wissenschaften erbringen lediglich relative Erkenntnisse. Und nimmt man`s genau, dann ist Relativität das allem Existierenden immanente Prinzip.)

Insofern könnten wir den Satz «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.» (Karl Marx) etwas abwandeln, nämlich in:

Die Wissenschaftler interpretieren und verändern die Welt auf verschiedene Weise; jetzt kömmt es aber darauf an, sie so zu verändern, dass sie nicht „mit Mann und Maus“ untergeht.

Die technischen „Fähigkeiten“, sie zu zerstören, haben wir.

Ich bin nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, seit ich, wie ich annehme, politisch denken kann, gegenüber allen politischen Prognosen skeptisch. Trends lassen sich erkennen; aber niemand kann genau sagen, was wirklich eintrifft, wer die Welt beherrschen wird, wie sie aussehen wird, ob alles im Chaos endet oder ob schließlich die Vernunft obsiegt und die Lebensverhältnisse auf unserm Planeten sich für alle – Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, Luft – wesentlich bessern.

Ich sehe keine proletarische Weltrevolution, wie Marx, Engels, Lenin und Trotzki es sich vorgestellt hatten, im Gange oder voraus. In Lateinamerika, in Afrika und in einigen asiatischen Ländern kämpfen Landlose, Besitzlose, Proletarier um ihre Rechte; aber das ist noch keine Revolution. Was ich sehe, Tag für Tag, das sind gewaltige Umbrüche, Umwälzungen, Verwerfungen, bedingt durch technologisch technische Entwicklungen, durch eine rücksichtslose Weltpolitik der Großmächte und durch eine ebensolche Globalisierung der Wirtschaft, die ohne den technischen Fortschritt so gar nicht möglich wäre.

Verschwinden wird wahrscheinlich, wie einst in Europa, die Feudalherrschaft in den arabischen Ländern und in Asien da, wo sie noch vorhanden ist. An dessen Stelle tritt islamistischer Fundamentalismus, eine andere Form der Diktatur und des Sozialismus, eines religiösen. Die iranische Revolution war der Anfang. Danach kam Afghanistan. Dann haben die Bushisten durch ihren aggressiven, christlichen und kapitalistischen Fundamentalismus den islamistischen groß gemacht.

Die islamistische ist eine Kulturrevolution, ausgelöst durch die Globalisierung der amerikanischen Fastfood- und Coca-Cola-Kultur. Die Hauptrolle jedoch spielte dabei das Öl, das nach der Vertreibung des persischen Schahs Mohammed Resa von Ayatollah Ruhollah Khomeini (1979) durch Verstaatlichung dem Zugriff US-amerikanischer Konzerne entzogen wurde. Der Kapitalismus war damit nicht abgeschafft.

Der Kapitalismus hat sich überall als flexibler erwiesen, als es die marxistische Theorie vorausgesagt. Er hat bisher alle Krisen überstanden, und es fragt sich auch heute, ob er ausgemerzt werden kann oder zwangsläufig, wie Marx geglaubt hat, an sich selber zu Grunde geht. Im Gegenteil: Überall dort, wo ein Sozialismus als Gesellschafts- und Staatsform real existiert hat, ist er gescheitert, und dort, wo es ihn noch gibt (China, Vietnam, Kuba), werden privatkapitalistische Produktions- und Verkehrsweisen wieder erlaubt, eine Entwicklung, die weitergeht, bis eines Tages nur noch eine leere Theoriehülle übrig bleibt, eine Ideologie in den Geschichtsbüchern.

Und warum ist das so? Weil im Marxismus vor lauter Dogmen die Psychologie des Menschen übersehen, ignoriert wird. Selbst einen Wilhelm Reich, einen Psychoanalytiker, der die Nöte der Arbeiter und ihrer Familien kannte, die materiellen wie die kulturell-psychischen, und in Proletariervierteln zu helfen versuchte, hat man verfemt. So wurden elementare Bedürfnisse und Triebkräfte des Menschen missachtet. Schon Marx und Engels hatten übersehen, dass der Erwerbs- und Besitztrieb jedem Menschen sozusagen in die Wiege gelegt wird.
Das hat mir mein jüngster Enkel kürzlich wieder vor Augen geführt. Kaum drei Wochen alt war er, als er mit seinen kleinen Händen nach allem, was in seine Nähe kam, zu greifen versuchte, mit anderen Worten, als er von seiner kleinen Welt Besitz zu ergreifen versuchte. Bisher waren es die Brüste seiner Mutter, von denen er Besitz ergriffen hatte – es sind die primären Produktionsmittel: die Mutterbrüste –, nun begann er, die Welt zu erobern, um sie zu besitzen.

An diesem Besitztrieb scheitern alle Versuche, kommunistische Produktionsweisen und Gesellschaftsformen zu schaffen, von kleinen, lokalen Ansätzen abgesehen. Selbst die Kibbuzbewegung in Israel, anfangs reiner Kommunismus, hat den Privatbesitz (allerdings nicht an Produktionsmitteln!) wieder einführen müssen. Es gibt nur einen religiösen Kommunismus in christlichen und buddhistischen Klöstern und in sufistisch-islamischen Gemeinschaften. In diesen Kommunismus wird, von wenigen Ausnahmen abgesehen, niemand hineingezwungen, und, nach meiner Kenntnis, soweit es buddhistische Sanghas betrifft, können solche Kommunen jederzeit wieder verlassen werden.

Der Kapitalismus ist ein sehr flexibles System. Er wird sich nicht selber zu Grabe tragen, sondern an die jeweiligen Verhältnisse anpassen. So haben die großen Ölgesellschaften sich längst darauf eingestellt, dass der Stoff, von dem sie hauptsächlich existieren, eines vorausberechenbaren Tages alle ist. Mit ihm die Petrochemie. Shell zum Beispiel forscht und investiert in Projekte alternativer Energien. Denn auch die Risiken der Atomkraft samt der Entsorgung des Atommülls zwingen zum Umdenken in den Chefetagen. Hier kennt man die wirklichen Kosten. Es sind „gigantische volkswirtschaftliche Kosten“ (Detlef Chrzonsz, Vorsitzender Christliche Demokraten gegen Atomkraft). Noch werden sie totgeschwiegen. Dasselbe haben wir beim Straßenverkehr.

Was liegt also am nächsten? Solche Fakten und Zusammenhänge öffentlich zu machen, aufzuklären, Gegenkonzepte zu entwerfen, politische Verbündete zu suchen, auch in Parteien, Basis-, Bürgerinitiativen zu gründen, kurz: Menschen zu sensibilisieren und demokratisch einen Bewusstseinsprozess in Gang zu bringen. Ziel solcher Prozesse wäre keine proletarische Revolution mit Aneignung der Produktions- und der Verkehrsmittel (Handel, Finanzen) und der Herrschaft über die Kommunikationssysteme, sondern eine demokratische Kontrolle der Wirtschaft, anders ausgedrückt: eine Demokratisierung der Wirtschaft, an der Alle Anteil haben. Wenn wir daran arbeiten, haben wir genug zu tun. Die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist die ökologische; sind ist eng verbunden mit der sozialen.

Soweit meine Sicht der Dinge. Man kann es auch anders sehen.

(09. 05. 2009)

Autor:

Dietrich Stahlbaum aus Recklinghausen

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