Vorgestern in der S-Bahn...

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... war es früh - sehr früh am Morgen.
Sie steigt am Hauptbahnhof Wuppertal ein und setzt sich auf den Platz gegenüber.
Sie ist sehr blass und hat die Augen halb geschlossen. Was mag ihr zugestoßen sein?
Ich will sie nicht so genau beobachten, das ist mir und ganz sicher auch ihr peinlich. Aber immer wieder verleiten mich die traurigen Augen dazu, ihr ins Gesicht zu sehen.
Sie sieht aus wie eine Frau die auf sich hält. Die Haare sind gut geschnitten, die Augenbrauen sauber gezupft, die Haut ist gepflegt. Ihre Garderobe ist leger, aber leicht zerdrückt.
Eigentlicht schaut sie aus wie eine Frau, die niemals ungeschminkt in die Öffentlichkeit gehen würde und auf die Farbabstufungen ihres Outfits achtet. Dieses etwas ungepflegte Äußere passt nicht.
Meine Fantasie schlägt Kapriolen: Ist sie auf dem Weg ins Krankenhaus und muss sich einer schweren Operation unterziehen? Hat sie sich gerade von ihrem Mann getrennt oder ist ihr Kind verstorben? Ist sie depressiv - will sie sich umbringen? Warum um alles in der Welt sieht sie nur so hilfsbedürftig aus?
Müsste ich ihr ein Gespräch anbieten - ihr versuchen zu helfen?

Sie betrachtet die vorbei ziehende Landschaft.
Nebeldunst steigt aus den Wiesen und die Rehe lassen sich vom Geräusch der Bahn nicht stören. Die Sonne steht schräg und scheint sie zu blenden.
Sie schließt die Augen, macht sie aber, wie unter Zwang, immer wieder auf.
An jeder Haltestelle atmet sie tief aus und ich bemerke, wie sie immer blasser wird.
Ob ich ihr vielleicht einen Bonbon anbieten oder sie fragen, ob wir an der nächsten Haltestelle die Fahrt unterbrechen, aussteigen und gemeinsam einen Kaffee trinken sollen?
Brächte sie das möglicherweise auf andere Gedanken?

Jetzt kommt das lange Stück zwischen Vohwinkel und Wülfrath. Die Bahn fährt schneller, gleichmäßiger und die Augen der Frau fallen zu. Sie scheint zu schlafen, ihr Gesicht entspannt sich ein wenig. Sie beißt die Zähne nicht mehr so fest aufeinander und die steile Falte zwischen den Augenbrauen ist auch nicht mehr so tief.
Durch meine Beobachtungen fühle ich mich der Frau nahe und mache mir Sorgen. An welcher Haltestelle muss sie aussteigen - hoffentlich verschläft sie nicht! Sollte ich sie leicht anstoßen und wecken?
Ich habe Hemmungen, weil wir uns nicht kennen und ich mich prinzipiell niemals in das Leben anderer Menschen einmischen will - aber was, wenn sie verschläft?

Der Zug bremst vor Neviges stärker ab und die Tasche der Frau fällt auf den Boden.
Erschreckt und verwirrt schaut sie auf. "Sind wir schon in Langenberg?" fragt sie mich, während ich ihre Tasche aufhebe und sie ihr reiche.
Als ich ihr sage, dass Langenberg erst die nächste Station ist, breitet sich ein freundliches Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ihre Augen strahlen mich an und sie sagt: "Oh, da habe ich aber Glück gehabt, dass ich nicht erst in Haltern wach geworden bin! Letzte Nacht hatte ich einen langen Dienst und bin froh, wenn ich wieder zuhause bin und endlich schlafen kann. Es ist wohl besser, wenn ich mich an die Tür stelle, damit mir die Augen nicht wieder zufallen. Danke, dass Sie mich geweckt haben!"
Fröhlich lachend schwingt sie sich ihre Tasche über die Schulter und geht zum Ausstieg.

Autor:

Gabriele Pohley aus Velbert-Neviges

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