Buch der Woche: Überall Zerrissenheit

Judith Kuckarts Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“

„Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer“, hatte die heute 56-jährige Autorin Judith Kuckart vor zwei Jahren in einem Interview erklärt und damit schon die seelischen „Befindlichkeiten“ der meisten Figuren ihres neuen, bereits achten Romans vorweg genommen.

Die gebürtige Schwelmerin (mit Wohnsitzen in Berlin und Zürich) hat sich seit ihrem Debüt „Wahl der Waffen“ (1990) peu à peu weiter entwickelt und ist zu einer ganz wichtigen Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur geworden. Nicht zuletzt wegen ihrer unaufgeregten Erzählstimme und der beinahe lakonischen Sprache.

Elf Episoden verknotet
Elf Episoden mit wechselnden Personen hat Judith Kuckart – mal besser, mal weniger gut gelungen – zu einer großen Erzähleinheit verknotet. Es geht zumeist um komplizierte Beziehungen, Lebenszäsuren, Bilanzen, Neuanfänge, Hoffnungen und Enttäuschungen. Eine bleierne, melancholische Traurigkeit hüllt die Figuren ein. „Sie hatten die Regeln befolgt, aber das Glück folgte nicht“, resümiert der auf den Umgang mit Hooligans spezialisierte Polizeibeamte Sven reichlich desillusioniert die Beziehung zu seiner Partnerin Bea, einer arbeitslosen Grafikerin. Sie hatten da, wo sie wohnten, „eigentlich nichts zu suchen.“
Immer wieder gelingt es Judith Kuckart mit wenigen, sparsam platzierten Worten Lebensträume zu zerstören und die Spießigkeit im alltäglichen Denken zu demaskieren. Manches wirkt verstörend in diesem Buch, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau oder Kinder und Eltern. Die Verzweiflung und das Elend wird immer wieder durch Klavierspiel kontrastiert. Glücksmomente sind rar gesät und existieren zumeist nur in melancholischen Rückblicken, so auch auf eine kindliche Karussellfahrt in Belgien.

Student mit Lego-Kran
Gleich zum Handlungseinstieg macht uns Judith Kuckart mit einer zentralen, aber höchst ambivalenten Figur vertraut: Leonhard, ein Volkswirtschaftsstudent, der einst mit seinen Eltern aus Belgien nach Stuttgart übergesiedelt ist und in seinem Zimmer einen Kran aus Legosteinen wie eine kostbare Reliquie hütet. Er verbringt Silvester allein im Haus seiner Eltern und findet am nächsten Morgen im Flur eine fremde Frau („tot war sie nicht, sie atmete deutlich“). Nichts ist fortan in Leonhards Leben mehr so wie es einmal war. Das flüchtige Glück huscht wie ein Phantom durch die Handlung. Ob Marilyn und Joseph oder die beiden betagten reiselustigen pensionierten Lehrerinnen Emilie und Maria – sie alle genießen die winzigen Momente des gesteigerten Endorphin-Ausstoßes.
Bei Judith Kuckart werden die Worte nicht mit dickem Pinselstrich gemalt, sondern nur ganz behutsam und dünn mit Bleistift skizziert. Und genau darin liegt ihre Stärke. In ihrem neuen Roman hält sie uns einen Spiegel vor, zeigt uns allen (durch ihre Figuren) unsere kleinen und großen Schwächen – ungeschminkt und unbarmherzig, so dass die Lektüre bisweilen schmerzt.

Judith Kuckart: Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück. Roman. Dumont Verlag, Köln 2015, 219 Seiten, 19,90 Euro

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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