Eine Brache am Stadtrand


Judith Hermanns Erzählungen „Lettipark“


Vor 18 Jahren hat sie mit ihren Debüterzählungen „Sommerhaus, später“ gleich einen grandiosen Erfolg gefeiert. Der Band avancierte zum Bestseller, und der Name Judith Hermann galt fortan beinahe als Synonym für das Phänomen „Fräuleinwunder“. Als „Stimme ihrer Generation“ wurde die Berlinerin gefeiert und ihren Texten ein „unwiderstehlicher Sog“ attestiert. Vor zwei Jahren legte sie ihren mit großer Spannung erwarteten ersten Roman „Aller Liebe Anfang“ vor - ein unspektakuläres, etwas langatmiges Buch über eine Frau mittleren Alters, die eine Zwischenbilanz zieht. 

Nun präsentiert die inzwischen 46-jährige Autorin wieder einen Band mit 17 neuen Erzählungen – getragen von lakonischem, bisweilen leicht künstlich anmutenden Ernst. Die Figuren könnten ältere Geschwister von den „Sommerhaus-Protagonisten“ sein, etwas gealtert, leicht desillusioniert, und die neugierige Erwartungshaltung der einstigen Twens ist einer Portion Skepsis gewichen. 
In einem Interview hatte Judith Hermann eingeräumt: „Offenbar ist es so, dass ich über die Jahre an ein und derselben Geschichte schreibe oder über dieselben Menschen in den verschiedenen Phasen ihres Lebens.“
Von Sehnsüchten und Lebensträumen, vom Scheitern und von neuen Anfängen ist hier wie damals die Rede. Und doch wirken die aktuellen Texte wie von einer Patina aus Nebel und Düsternis überzogen. „Ein gewöhnlicher, trostloser Park am Stadtrand, eine Brache, und es gab gar nichts zu sehen, verschneite Wege, ein verlassenes Rondell, Bänke und eine leere Wiese“, heißt es über den im Titel verewigten „Lettipark“. Es ist die völlig nüchterne Beschreibung eines Ortes, der keinerlei Empfindungen auslöst und der völlig austauschbar wirkt. Vielleicht ist darin sogar auch ein dezenter Hinweis auf die Figuren verborgen – alles eben grau, trostlos, austauschbar, vielleicht sogar emotionslos.
Die meisten Figuren des Bandes sind schon in Zweitbeziehungen eingebettet, haben manche private wie berufliche Hürden bereits nehmen müssen. So auch die alleinerziehende Mutter Tess, die sich zu einem Vorstellungsgespräch begibt und einen Freund um die Beaufsichtigung ihrer Kinder bittet. In dieser Geschichte mit offenem Ende werden existenzielle Probleme (bekommt Tess den Job oder nicht?) spielerisch verballhornt. Tess lässt mit ihrem Freund und den Kindern selbstgebastelte Papierflieger „über die Straße hinaus auf die Gleise, auf die hohen Pappeln zu“ schweben. Ein offenes Textende sollte nicht für grenzenlose Beliebigkeit stehen. 
Aber Judith Hermann kann auch ganz anders. Anrührend, empathievoll und psychologisch fein gesponnen wie in der Auftakterzählung „Kohlen“, in deren Mittelpunkt die schon verstorbene Mutter des kleinen Vincent steht. Sie ist krank geworden, weil sich ihr Mann von ihr getrennt hat. Nach mehreren Schlaganfällen ist sie schon erblindet, als sie am Krankenbett Besuch von den Nachbarn erhält. „Wir hatten nicht gewusst, dass unsere Gesichter für Vincents Mutter schön gewesen waren.“
Solche in die Tiefe gehenden Einblicke (wie sie auch in ihrem 2009 erschienenen Band „Alice“ gewährt wurden) hätte man sich mehr gewünscht von Judith Hermann. So aber überwiegt in diesem Band der von ihr selbst abgegebene Eindruck über das Areal des „Lettiparks“ – alles ziemlich trostlos und wenig einladend.


Judith Hermann: Lettipark. Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, 187 Seiten, 18,99 Euro.

Autor:

Peter Mohr aus Wattenscheid

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